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Haftung für krankmachende Arbeitsbedingungen

Haftung für krankmachende Arbeitsbedingungen

Kommentierung
Öffentliches Personalrecht

Haftung für krankmachende Arbeitsbedingungen

Bemerkungen der Redaktion: Zum Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts vgl. Stresshaftung im öffentlichen Personalrecht (A_4147/2016)

I. Haftung für unterlassene Schutzmassnahmen

Es gibt wenig Urteile zur Haftung für krankmachende Arbeitsbedingungen. Umso bedeutsamer sind aus Sicht der psychischen Gesundheitsprävention einige Erwägungen in diesem Urteil:

  • Aus welchen Gründen auch immer der Personalbestand knapp ist, rechtfertigt dies keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen von Arbeitnehmenden.
  • Wenn Mitarbeitende erkrankt sind, besteht eine erhöhte Fürsorgepflicht, und es sind spätestens dann Massnahmen zutreffen, welche für die Gesundheit der betroffenen Person tatsächlich wirksam sind.
  • Ansprüche auf Schadenersatz und Genugtuung bestehen zusätzlich zu den Ansprüchen im Zusammenhang mit der Kündigung.

II. Zeitpunkt für Arbeitsschutz-Massnahmen

Der Entscheid irritiert jedoch, weil der Eindruck entsteht, Haftung spiele effektiv erst bei der Verletzung einer erhöhten Fürsorgepflicht eine Rolle. Solange nicht einzelne Arbeitnehmende erkrankt sind, scheint ein (über-)grosser Ermessensspielraum zu bestehen. Im vorliegenden Fall wurden der Beschwerdeführerin trotz Teilzeitpensum gleich viele Fälle zur Bearbeitung zugewiesen wie den Vollzeit-Mitarbeitenden. Sie wurde über eineinhalb Jahre im Ungewissen gelassen, in welcher Funktion und bei welcher Organisationseinheit sie beschäftigt ist. Nach ihrem Ausscheiden sei der von ihr zu bewältigende Arbeitsumfang von mehreren Mitarbeitenden übernommen worden. Zudem hatte das SEM u.a. die Stellvertretung während Ferien und Krankheitsabsenzen nicht geregelt und hingenommen, dass seine Arbeitnehmenden trotz ohnehin konstant grossem Arbeitsumfang nach solchen Abwesenheiten eine entsprechend noch höhere Arbeitslast zu bewältigen hatten, was den Erholungseffekt systematisch zu Nichte gemacht habe. Hier verweist das Gericht darauf, dass dies in der Praxis nicht ungewöhnlich sei und es im Ermessen der Arbeitgebenden sei, wie ferien- und krankheitsbedingte Abwesenheiten aufgefangen werden. Obwohl die Beschwerdeführerin beim Abbau der Pendenzen Handlungsfreiheit und keine ausdrücklichen Anweisungen gehabt habe, sei diese Situation zwar geeignet gewesen, indirekten Druck bei ihr aufzubauen. Dies habe aber nicht zu einer systematischen Überbeanspruchung geführt. Dafür fehle es an der sachlichen und zeitlichen Intensität analog der Rechtsprechung zu Mobbing. Diese Ausführungen sind anhand der (aus dem Urteil ersichtlichen) über Jahren bestehenden Arbeitssituation und der jahrelangen Leidensgeschichte der Beschwerdeführerin schwer nachvollziehbar. Es fragt sich auch, ob eine normale (nicht erhöhte) Fürsorgepflicht gegenüber einem Betrieb je durchgesetzt werden kann.  Nach den Ausführungen in diesem Urteil könnten Arbeitgebende erst einmal abwarten, ob Krankheitsfälle auftreten und erst zu diesem Zeitpunkt aktiv werden. Das entspricht aber weder dem Wortlaut von Art. 328 OR noch Art. 6 ArG. Überbeanspruchungen sind zu vermeiden (Art. 6 Abs. 2 ArG). Gefordert sind (primär präventive) Massnahmen zum Schutz der Gesundheit generell und nicht erst, wenn eine Beeinträchtigung vorliegt, die sich als Erkrankung manifestiert.

III. Kausalzusammenhang

Immerhin sah das Verwaltungsgericht implizit einen Kausalzusammenhang zwischen dem Unterlassen von Schutzmassnahmen und der Erkrankung der Arbeitnehmerin. Ob dafür ärztliche Beurteilungen vorlagen oder die unbestrittenen Hinweise der Beschwerdeführerin auf die Gefahren genügt haben, erschliesst sich aus den Erwägungen nicht.

IV. Eigenverantwortung der Arbeitnehmenden

Abschreckend für alle Betroffenen wirken die Ausführungen zur Eigenverantwortung von Arbeitnehmenden. Das Verwaltungsgericht hält der Beschwerdeführerin vor, sie hätte selber Coaching oder Supervision in Anspruch nehmen können und dafür Arbeitszeit und die Übernahme der Kosten verlangen können. Es genüge nicht, dass sie diese Möglichkeit in einem Personalgespräch erwähnt habe. Da hat der EuGH in seinem Vorabentscheid C‑429/09 vom 26. 11. 2010 eine andere, realistischere Sicht gehabt: einem Arbeitnehmer, dem durch den Verstoss seines Arbeitgebers gegen Arbeitsschutzbestimmungen (hier: Arbeitszeit) ein Schaden entstanden ist, könne als generell schwächere Partei nicht zugemutet werden, zuvor einen Antrag beim Arbeitgeber zu stellen, um später einen Anspruch auf Ersatz dieses Schadens geltend machen zu können. Dahinter stand die Überlegung, dass Arbeitgebende zwingende Bestimmungen ohne Mahnung der Arbeitnehmenden einzuhalten haben.

Das besprochene Urteil erwähnt immerhin, dass «aus heutiger Sicht» die Fürsorgepflicht gerade bei solch psychisch belastenden Tätigkeiten wie im SEM darin bestehen könne, dass Arbeitgebende Begleitung und Beratung anbieten. Die Beschwerdeführerin habe aber nicht darlegen können, dass dieses Erfahrungswissen bereits in den neunziger Jahren bestanden habe.

V. Beweiswürdigung

Die beantragten Beweise bezüglich anderer erkrankter Mitarbeitenden des SEM hat das Gericht aufgrund seiner antizipierten Beweiswürdigung nicht abgenommen, da diese an der fehlenden Widerrechtlichkeit in Bezug auf die Arbeitsorganisation nichts geändert hätten. Es mag zutreffen, dass sich Fälle von verschiedenen erkrankten Arbeitnehmenden nicht einfach vergleichen lassen. Ein gehäuftes Auftreten von arbeitsbedingten Erkrankungen ist allerdings anerkanntermassen ein Indiz für mangelnden Gesundheitsschutz (Absenzenmanagement).

Ob auch Sachverständige der antizipierten Beweiswürdigung des Bundesverwaltungsgerichts und seiner Sicht zum Stand des Arbeitsschutz-Wissens in den neunziger Jahren gefolgt wären, muss wohl bezweifelt werden. Sachverständige wurden weder von der Vorinstanz noch vom Gericht beigezogen. Dies ist bezüglich solcher Verfahren grundsätzlich zu hinterfragen, denn in der Arbeitswissenschaft wird seit bald hundert Jahren zu den Zusammenhängen zwischen Arbeitsbedingungen und Erkrankungen geforscht. Dieses Fachwissen dürfte bei einem Gericht wohl kaum im erforderlichen Umfang vorhanden sein.

iusNet AR-SVR 13.09.2017