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Rentenausschlussgrund psychosoziale und soziokulturelle Faktoren? (9C_732/2017)

Rentenausschlussgrund psychosoziale und soziokulturelle Faktoren? (9C_732/2017)

Rechtsprechung
Invalidenversicherung

Rentenausschlussgrund psychosoziale und soziokulturelle Faktoren? (9C_732/2017)

In diesem, in 3-er Besetzung ergangenen Folgeentscheid zur Aufgabe der Depressionspraxis (BGE 143 V 409) wird deutlich, dass bei therapierbaren psychischen Leiden weiterhin hohe Hürden beim Rentenzugang bestehen. Die Hürden gründen in der Rechtsprechung zu den psychosozialen oder soziokulturellen Faktoren (BGE 127 V 294). Entgegen der medizinischen Einschätzung von RAD und MEDAS bleibt das depressive Geschehen vorliegend aus rechtlichen Gründen "unberücksichtigt".

Sachverhalt: Die Versicherte war bis Februar 2016 in einem Kinderheim in der Hauswirtschaft angestellt war (letzter effektiver Arbeitstag im August 2014). Ende Juli 2014 meldete sich die Versicherte aufgrund von Rückenschmerzen bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle holte ein polydisziplinäres Gutachten ein, in welchem aufgrund einer mittelgradigen depressiven Störung (F32.10) und einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung (F45.50) eine Arbeitsunfähigkeit von 50% attestiert wurde. Der konsiliarisch beigezogene Psychiater des RAD bestätigte diese Einschätzung. Anfang 2017 verneinte die IV-Stelle einen Leistungsanspruch. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das kantonale Versicherungsgericht u.a. aufgrund der inzwischen aufgegebenen Depressionspraxis ab (E 2.1).

Erwägungen: Das Bundesgericht bestätigt diesen Entscheid. Zwar steht die Therapierbarkeit eines depressiven Geschehens dem Rentenanspruch nicht (mehr) grundsätzlich entgegen (E. 4.3.1). Doch gilt unverändert, dass ein invalidisierender psychischer Gesundheitsschaden nur gegeben sein kann, wenn das klinische Beschwerdebild nicht einzig in psychosozialen und soziokulturellen Umstände seine Erklärung findet, sondern davon psychiatrisch unterscheidbare Befunde umfasst (E. 4.3.1).

Vorliegend hatte der Gutachter seine Einschätzung zur Arbeitsunfähigkeit damit begründet, dass bei einer mittelgradigen depressiven Episode die Bescheinigung einer 50 %-igen Arbeitsunfähigkeit "üblich" sei. Eine solche Beurteilung fällt allzu schematisch aus und genügt den normativen Rahmenbedingungen nicht. Eine Korrektur der gutachterlichen Einschätzungen durch die Vorinstanz war daher angezeigt (E. 4.1.2).

Weiter vermutete der Gutachter eine psychosoziale Genese der gesundheitlichen Beeinträchtigungen (Eheprobleme, Auszug der Kinder und Verlust der Arbeitsstelle). Zwischen den psychosozialen Belastungen und der psychischen Befindlichkeit erhob der Gutachter (persistierende) Wechselwirkungen, ging aber ungeachtet dessen von einer verselbständigen depressiven Störung aus (E. 4.3.1.1).

Dies war für das Bundesgericht – anders als für den konsiliarisch beigezogenen Psychiater des RAD (E. 4.3.1.3) – nicht nachvollziehbar. Gemäss MEDAS-Gutachten konnte die Arbeitsfähigkeit der Versicherten durch eine berufliche und soziale Reintegration wahrscheinlich gesteigert werden. Daraus schloss das Bundesgericht, dass invaliditätsfremde Faktoren die Störung nach wie vor massgeblich unterhielten (E. 4.3.1.2).

Ein versicherter Gesundheitsschaden war für das Bundesgericht nicht erstellt, weshalb die Vorinstanz das depressive Geschehen im Ergebnis zu Recht nicht berücksichtigt hatte (E. 4.3.1.3).

Bemerkungen der Redaktion (Philipp Egli): Das Ausblenden eines fachärztlich festgestellten depressiven Geschehens ist problematisch, zumal ein relevanter Teil der depressiven Störungen von ca. 20% auch unter einer lege artis durchgeführten Behandlung einen chronischen Verlauf nimmt (Roman Schleifer et al., in: HAVE 2017 S. 266 ff., 272) und damit eine "andauernde Depression" darstellt, sofern man mit BGE 127 V 294 auf dieses wohl eher überholte Kriterium abstellen will (offener gefasst dagegen BGE 143 V 409, wo eine "nachvollziehbare Diagnosestellung" vorausgesetzt wird [E. 4.5.2]). Mit diesem Ausblenden läuft die Rechtsprechung Gefahr, das Behinderungspotenzial depressiver Geschehen unberücksichtigt zu lassen. Dies wäre ein bedauerlicher Rückschritt gegenüber BGE 143 V 409 und im Ergebnis eine Fortführung der Depressionspraxis.

iusNet AR-SVR 19.03.2018