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Einsprachelegitimation des zweiten Unfallversicherers bei Doppelbeschäftigungsverhältnissen

Einsprachelegitimation des zweiten Unfallversicherers bei Doppelbeschäftigungsverhältnissen

Kommentierung
Unfallversicherung
Allgemeines Sozialversicherungsrecht (ATSG)

Einsprachelegitimation des zweiten Unfallversicherers bei Doppelbeschäftigungsverhältnissen

I. Sachverhalt

Der zur Publikation vorgesehene Entscheid 8C_396/2017 vom 1. Februar 2018 beschäftigt sich mit der besonderen Ausgangslage, dass eine Arbeitnehmerin zum Unfallzeitpunkt zwei Beschäftigungen im Teilzeitpensum ausübte. Für ihre Anstellung als Pflegehelferin war sie bei der SWICA und für ihre Tätigkeit als Raumpflegerin bei der Suva gegen das Unfallrisiko versichert. Im November 2012 erlitt die Versicherte einen Nichtberufsunfall, bei welchem sie sich eine Knöchelfraktur zuzog. Nach Abschluss der Heilbehandlung gewährte ihr die Suva im Februar 2015 eine Integritätsentschädigung von 15 % sowie eine IV-Rente auf der Basis einer Erwerbsunfähigkeit von 37 %. Gegen diesen Entscheid erhob die SWICA im März 2015 zunächst vorsorglich Einsprache und reichte während der mehrmals verlängerten Nachfrist eine Einsprachebegründung nach. Die Suva trat auf die Einsprache des zweiten Unfallversicherers nicht ein. Gegen diesen Nichteintretensentscheid setzte sich die SWICA beim Sozialversicherungsgericht Zürich erfolgreich zur Wehr. Die kantonale Instanz anerkannte eine Rechtsmittelbefugnis der SWICA und wies die Sache an die Suva zur materiellen Prüfung der Einsprache zurück. Die Suva focht dieses Urteil an. Die entsprechende Beschwerde wies das Bundesgericht allerdings ab.

II. Erwägungen

Bei der erstinstanzlichen Beurteilung der Eintretensfrage handelte es sich um einen Vorentscheid, welcher bloss unter den eingeschränkten Kriterien von Art. 93 BGG an das Bundesgericht weitergezogen werden kann (E. 1.1). Das Bundesgericht sah keine nicht wieder gut zu machenden Nachteile zulasten der Suva und rief in Erinnerung, dass gemäss BGE 137 III 380 rein faktische Nachteile wie beispielsweise eine entsprechende Verfahrensverlängerung oder -verteuerung regelmässig nicht ausreichten. Ob vorliegend die anderen Eintretensvoraussetzungen von Art. 93 BGG erfüllt sind, liess das Bundesgericht offen, da es die Beschwerde der Suva aus anderem Grund abwies (E. 1.2).

Anschliessend beleuchtete das Bundesgericht die unterschiedlichen Varianten, bei welchen ein Sozialversicherungsträger gegen den Entscheid eines anderen Versicherers einsprachelegitimiert ist. In Anlehnung an die Rechtsprechung von BGE 134 V 153 fallen nach Auffassung des Bundesgerichts grundsätzlich folgende vier Konstellationen darunter: 

  1. Die Ablehnung einer Leistungspflicht des verfügenden Sozialversicherers begründet im Sinne eines negativen Zuständigkeitskonflikts unmittelbar jene des anfechtungswilligen Versicherers.
  2. Die Beurteilung des Anspruchs durch den einen Versicherer entfaltet für den anderen eine Bindungswirkung, so dass diesem eine eigenständige Prüfung einzelner Elemente, wie beispielsweise der Höhe des Invaliditätsgrades, in der Regel verwehrt bleibt.
  3. Die strittige Verfügung hat unmittelbare quantitative Auswirkungen auf die Leistungspflicht des zweiten Versicherers.
  4. Die strittige Verfügung begründet eine Vorleistungspflicht des anfechtenden Versicherers (E. 3).

Nach der intrasystemischen Koordinationsregel von Art. 99 Abs. 2 UVV wird bei Nichtberufsunfällen die Leistungspflicht demjenigen Unfallversicherer zugewiesen, bei welchem der Arbeitnehmende vor dem Unfallereignis zuletzt beschäftigt und für Nichtberufsunfälle versichert war. Im hier diskutierten Urteil war die Versicherte vor dem Unfall als Raumpflegerin tätig, weshalb die Zuständigkeit auf die Suva fiel. Die interne Kostenverteilung unter den beiden involvierten Unfallversicherern richtet sich dabei gemäss Art. 99 Abs. 2 UVV anteilsmässig nach der jeweils versicherten Lohnsumme im Verhältnis zum versicherten Gesamtverdienst. Die Besonderheit lag vorliegend darin, dass die in einem deutlich geringeren Ausmass betroffene Suva über die Leistungspflicht des zweiten Unfallversicherers befinden konnte, obwohl dieser proportional zur versicherten Lohnsumme den finanziell deutlich grösseren Anteil zu tragen hatte (E. 4).

Das Bundesgericht räumte zwar ein, dass die hier zu beurteilende Konstellation nicht vollständig in eine der vier beschriebenen Fallkonstellationen von BGE 134 V 153 passe. Allerdings könne der betreffende Sachverhalt weitgehend unter die zweite Fallgruppe subsumiert werden, da mit dem rechtskräftigen Entscheid der verfügenden Unfallversicherung gleichzeitig das Ausmass der Leistungspflicht des zweiten Versicherers festgelegt werde. Der zweite Versicherer sei nach Auffassung des Bundesgerichts durch die Verfügung des ersten Versicherers dermassen stark belastet, dass dieser in der geforderten Weise von der Verfügung berührt sei. Das Bundesgericht stellte klar, dass die in BGE 134 V 153 umschriebenen vier Konstellationen nicht abschliessend zu verstehen sind (E. 4.3.1). 

III. Kommentar

Mit Bezug auf die allgemeine Legitimationsbestimmung von Art. 59 ATSG ist grundsätzlich jeder Versicherungsträger zu einer Beschwerde berechtigt, welcher durch die angefochtene Verfügung oder den Einspracheentscheid berührt ist und gleichzeitig ein schutzwürdiges Interesse an der Aufhebung oder Änderung des strittigen Entscheids hat. Für das Einspracheverfahren gelten sinngemäss die gleichen Voraussetzungen wie für die Beschwerdebefugnis.1

Ein anderer Versicherungsträger ist dann von einem Entscheid berührt, wenn dieser in einer nahen Beziehung zur Streitsache steht sowie in rechtlichen oder tatsächlichen Interessen spürbar betroffen ist. Koordinationsrechtlich muss ein identischer Versicherungsfall vorliegen und es sollen grundsätzlich kongruente Leistungen zur Diskussion stehen.2

Nach konstanter Rechtsprechung des Bundesgerichtes wird eine Beschwerdelegitimation und somit auch ein schutzwürdiges Interesse regelmässig dann angenommen, wenn eine direkte Bindungswirkung zwischen dem Entscheid des einen Versicherungsträgers und der Leistungspflicht des anderen Sozialversicherers besteht.3 Dies ist beispielsweise nicht der Fall zwischen Rentenleistungen der Invalidenversicherungen und dem Unfallversicherer.4 Eine Bindungswirkung wird jedoch in der Regel hinsichtlich der Invaliditätsgradbemessung zwischen der Invalidenversicherung und der beruflichen Vorsorge angenommen.5 In der hier zu beurteilenden Konstellation ist nach der Koordinationsregel von Art. 99 Abs. 2 UVV der zweite Unfallversicherer an den Entscheid des verfügenden Unfallversicherers gebunden.

Die vom Bundesgericht bestätigte Einsprachelegitimation des zweiten Unfallversicherer hat in der Praxis zur Folge, dass verunfallte Personen, welche gleichzeitig mindestens zwei Teilzeitbeschäftigungen ausüben, in einem strittigen Verfahren unter Umständen mehreren professionell organisierten Unfallversicherungsgesellschaften gegenüber stehen. Wenn eine versicherte Person beispielsweise mit dem Abklärungsresultat des zuständigen Unfallversicherungsträgers grundsätzlich einverstanden ist und die entsprechende Verfügung in Rechtskraft erwachsen lassen möchte, kann die Rechtsmittelberechtigung des zweiten Unfallversicherers einerseits dazu führen, dass es zu einer deutlichen Verfahrensverlängerung kommt. Anderseits besteht bei einer Beschwerdebefugnis "contra Adressat" ein reales Risiko, dass der verfügende Unfallversicherer aufgrund der Intervention des zweiten Versicherungsträgers im Einspracheverfahren seinen Entscheid zu Ungunsten des Versicherten abändert.

Erfahrungsgemäss befinden sich Personen mit mehreren Teilzeitbeschäftigungen öfters in finanziell angespannten Verhältnissen. Ob das ungleiche Kräfteverhältnis der Verfahrensbeteiligten den dem Sozialversicherungsrecht zu Grunde liegenden Gedanken des Schutzes der sozial schwächeren Partei gerecht wird, bleibt in der oben diskutierten Konstellation zumindest fraglich. So musste auch das Bundesgericht einräumen, dass bei einem Doppel- oder Merfachbeschäftigungsverhältnis ein verunfallter Versicherter einem starken Akteur gegenüberstünde und diese Tatsache das Verfahren zu seinen Ungunsten durchaus erschweren könne (E 4.3.2).  

Bei einer künftigen Revision der Unfallversicherungsverordnung wäre es in Anlehnung an den Auffangtatbestand von Art. 99 Abs. 3 UVV sinnvoll, bei Nichtberufsunfällen anstatt an die zeitliche Nähe zum Unfallereignis anzuknüpfen, die Zuständigkeit demjenigen Versicherungsträger zuzusprechen, bei welchem der grössere versicherte Verdienst liegt. Eine Beschwerdelegitimation könnte aufgrund der direkten Bindungswirkung dem anfechtungswilligen Unfallversicherer auch in einer solchen Konstellation nicht abgesprochen werden. Da der zweite Unfallversicherer jedoch lohnsummenproportional in einem geringeren Masse betroffen wäre, würde ein solcher wohl seltener ein Rechtsmittel gegen den verfügenden Versicherungsträger einlegen.    

  • 1. BGE 132 V 74 E. 3.1 S. 77.
  • 2. Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, 3. Auflage, Zürich 2015, Art. 49 ATSG, N 70 ff.
  • 3. Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, 3. Auflage, Zürich 2015, Art. 59 ATSG, N 7 und N 43 ff.
  • 4. BGE 133 V 549 E. 6.4 S. 556.
  • 5. BGE 133 V 67 E. 4.3.2 S. 69.
iusNet AR-SVR 24.03.2018