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Berufliche Umstellung im Alter: Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit bei der IV

Berufliche Umstellung im Alter: Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit bei der IV

Kommentierung
Invalidenversicherung

Berufliche Umstellung im Alter: Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit bei der IV

Sachverhalt:

Der Versicherte mit Jahrgang 1955 war gelernter Maschinenschlosser und arbeitete seit 1984 in einer Metallsägerei. Wegen eines Herzleidens und einer (operierten) Hüftarthrose vermochte er die angestammte Arbeit nicht mehr auszuüben. Nach einem Zusammenbruch bei der Arbeit meldete er sich bei der IV an. Eine berufliche Wiedereingliederung scheiterte. Die Arbeitgeberin kündigte in der Folge die Anstellung. Die IV verfügte am 14.11.2016 die Rentenablehnung. Dagegen gerichtete Beschwerden wiesen das Kantonsgericht und das Bundesgericht ab:

Erwägungen:

Zwar bestehe eine 100 %-ige Arbeitsunfähigkeit in der angestammten Tätigkeit. Eine körperlich leichte Arbeit mit gewissen Einschränkungen sei indessen vollschichtig zumutbar (E. 3.1). Die Frage, ob die medizinisch-theoretische Restarbeitsfähigkeit wirtschaftlich noch verwertbar sei, bestimme sich gemäss BGE 138 V 457 in dem Zeitpunkt, in welchem die medizinische Zumutbarkeit feststeht. An dieser Praxis sei festzuhalten. Dieser Zeitpunkt sei hier die Beurteilung des behandelnden Facharztes. Nicht massgeblich sei, dass in casu der RAD später die Zumutbarkeitsbeurteilung des behandelnden Facharztes intern noch geprüft und bestätigt habe. Ebenso wenig komme als Zeitpunkt für die Beurteilung der Zumutbarkeit des Berufswechsels der Vorbescheid in Betracht, mit dem die IV vom Versicherten eine berufliche Umstellung gefordert habe (E. 3.2.1). Obschon der Versicherte in diesem Zeitpunkt (mit Alter 61,5 Jahre) nur noch 3,5 Jahre Dauer bis zur Pension vor sich habe, sei eine berufliche Umstellung zumutbar. Die vergleichbare Grenze für die Nicht-Anrechnung eines hypothetischen Einkommens ab Alter 60 im Bereich der Ergänzungsleistungen (Art. 14a Abs. 2 ELV) ändere daran nichts, denn sie betreffe eine andere Sozialversicherung (E. 3.2.2).

Kommentar:

Vorliegend beurteilte ein behandelnder Facharzt des Versicherten die Arbeitsfähigkeit. Normalerweise stellen IV und Gerichte nur beschränkt auf solche Berichte ab, denn es ist der Erfahrungstatsache Rechnung zu tragen, dass Behandler im Zweifelsfall zugunsten der Patienten urteilen.1 So verhielt es sich auch hier: Die IV übernahm diese Beurteilung nicht, sondern liess sie durch den RAD prüfen. Gleichwohl lehnt es das Bundesgericht ab, für den Zeitpunkt der Zumutbarkeit der beruflichen Umstellung (erst) auf die spätere RAD-Beurteilung abzustellen und damit eine kürzere verbleibende Aktivitätsperiode bis zum ordentlichen Rentenalter zu berücksichtigen. Dies ist insofern nicht überzeugend, als vorher die Restarbeitsfähigkeit "noch nicht feststand" – andernfalls keine RAD-Beurteilung erstellt worden wäre.2

Gemäss BGE 138 V 457 ist alleine die Aktenlage entscheidend für die Frage, ob eine berufliche Umstellung altersbedingt noch zumutbar ist. Hintergrund dieser Zumutbarkeitsprüfung der beruflichen Umstellung ist die Grenze zwischen Sozialversicherungsdeckung seitens Allgemeinheit und Schadenminderungspflicht des Einzelnen. Somit spielt gemäss Bundesgericht keine Rolle, wann die IV der versicherten Person mitteilt, sie könne sich aus medizinischer Sicht umstellen und diese und jene andere Arbeit sei ihr noch zumutbar, weshalb ihre Schadenminderungspflicht vorgehe. Dass jedoch der Zeitpunkt dieser Kenntnis der versicherten Person irrelevant ist, vermag aus Sicht der versicherten Person nicht zu befriedigen: Faktisch kann sie sich meist nicht umstellen, ohne Kenntnis von dieser Beurteilung zu haben. Behandelnde Ärzte werden sie meist 100 % arbeitsunfähig schreiben, und dabei kaum je Bezug nehmen auf eine leichte, angepasste Tätigkeit, und sie zum Wechsel auffordern. Oft vergehen in der Praxis zudem mehrere Monate, teilweise gar Jahre zwischen der Erstellung eines Gutachtens und der Zustellung des Vorbescheids (aus dem sich für Versicherte oft erst die Zumutbarkeit der beruflichen Umstellung ergibt). In der kritischen Phase einer beruflichen Umstellung ab Alter 60 zählt jeder Monat: Je länger die Abwesenheit vom Arbeitsmarkt dauert, desto länger dauert die Dekonditionierung, desto kürzer wird die verbleibende Aktivitätsperiode, desto mehr fällt die Einarbeitungszeit negativ ins Gewicht, und umso schwieriger ist erfahrungsgemäss eine Wiedereingliederung. Infolge Bezugs von Unfall- oder Krankentaggeld fehlt zudem der Druck, sich vor der Mitteilung der IV beruflich umzuorientieren.

Insbesondere wenn kein Rechtsbeistand zur Seite steht, kennen Versicherte die Deckungslimite des "ausgeglichenen Arbeitsmarktes" und die Pflicht zur beruflichen Umstellung nicht. Es wäre wünschenswert, wenn die IV im Rahmen von Art. 27 ATSG der versicherten Person immerhin umgehend nach Eingang der medizinischen Beurteilung mitteilen müsste, dass sie in angepasster Tätigkeit als arbeitsfähig gilt und von ihr eine berufliche Umstellung erwartet wird. Immerhin gilt die Aufklärungspflicht von Art. 27 ATSG ex officio; sie soll die Komplexität der Sozialversicherung gegenüber versicherten Personen als Laien abfedern, Anspruchsverluste verhindern und die materielle Existenz nach einem Risikoeintritt sichern.3 Mit der vorstehenden Gerichtspraxis aber wird die versicherte Person für die Schwerfälligkeit des Abklärungsverfahrens und die spärliche Kommunikation bestraft, wenn ihr mit grosser Verspätung erst via Vorbescheid mitgeteilt wird, sie hätte sich schon längst beruflich umorientieren können und müssen, und sie werde so gestellt, wie wenn sie dies gewusst und getan hätte. Anders hatte das Bundesgericht vor BGE 138 V 457 immerhin in 8C_880/2011 E. 5.4 entschieden und erst auf die Zustellung des Vorbescheids abgestellt.

Die besprochene, für Versicherte in fortgeschrittenem Alter unbefriedigende Gerichtspraxis ist zusätzlich problematisch, weil der Entscheid über die berufliche Verwertbarkeit ein "Alles oder Nichts" bedeutet: Ist eine berufliche Umstellung zumutbar, wird ein hypothetisches Invalideneinkommen angerechnet, gemäss LSE, grundsätzlich ohne altersbedingten Leidensabzug,4 insbesondere bei einer Hilfsarbeit.5 Dieses jährliche Invalideneinkommen liegt meist über CHF 54'000 (Frauen) resp. CHF 60'000 (Männer). Daraus resultiert insbesondere bei ungelernten Personen in Hilfsarbeiten praktisch nie eine Rente.6 Wird indessen die Zumutbarkeit der beruflichen Verwertbarkeit verneint, dann beträgt das Invalideneinkommen Null, und der IV-Grad im Erwerb folglich 100 %, mit ganzer Rente. Die Grenzziehung zwischen verwertbar und nicht verwertbar ist unscharf, eine Prognose schwierig. Die vorzunehmende Einzelfallprüfung berücksichtigt nebst dem fortgeschrittenen Alter auch weitere persönliche und berufliche Gegebenheiten, Art und Beschaffenheit des Gesundheitsschadens und seiner Folgen, den absehbaren Umstellungs- und Einarbeitungsaufwand und Persönlichkeitsstruktur, vorhandene Begabungen und Fertigkeiten, Ausbildung, beruflichen Werdegang oder Anwendbarkeit von Berufserfahrung aus dem angestammten Bereich.7 In der Praxis genügt so mal Alter 60,8 mal reicht sogar Alter 62 ¾ nicht.9 Entsprechend oft ist diese Frage Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzung. Eine solche dauert oft mehrere Jahre. Bis ein rechtskräftiger Gerichtsentscheid vorliegt, sind Taggelder meist ausgeschöpft. Dann ist eine Vielzahl von Versicherten entweder bereits im AHV-Alter, bei der Sozialhilfe, oder das Eigenheim musste veräussert werden, um den finanziellen Engpass zu überbrücken, weil kurz vor der Pension bei beruflicher Umstellung keine Chance auf eine Neuanstellung im nicht ausgeglichenen, sondern realen heutigen Arbeitsmarkt besteht. Es würde die Vorhersehbarkeit, Planbarkeit und Rechtssicherheit stärken und eine Vielzahl von Gerichtsverfahren vermeiden, wenn die Grenze "Alter 60" des ELG auf den IV-Bereich übertragen würde. Dies wäre auch naheliegender als der bundesgerichtliche Verweis, Ergänzungsleistungen beträfen eine andere Sozialversicherung: EL ergänzen bei Anspruch auf eine IV-Rente das Existenzminimum (Art. 4 Abs. 1 lit. c ELG). EL-Bezug setzt im Bereich der IV einen Rentenanspruch voraus. Wenn die "mildere" Altersgrenze der EL (die dem IV-Rentenanspruch nachgeht) nicht bereits beim IV-Rentenanspruch gilt, macht sie für diese Konstellation keinen Sinn, weil der EL-Anspruch am IV-Anspruch scheitert.

  • 1. BGer-Urteile 8C_913/2013 vom 11. April 2014 E. 4.4.3; 8C_68/2013 vom 14. Mai 2013; 8C_181/2012 vom 8. Juni 2012.
  • 2. BGE 138 V 457 E. 3.3 lit. b und E. 3.4 S. 462.
  • 3. Massimo Aliotta, Verfahrensrechtliche Aspekte bei Begutachtungen, in: Stephan Weber (Hrsg.), Personen-Schaden-Forum 2018, Zürich 2018, S. 83 ff., S. 105 f. mit weiteren Hinweisen.
  • 4. BGer-Urteil 8C_594/2011 vom 20. Oktober 2011 E. 5.
  • 5. BGer-Urteile 8C_403/2017 vom 25. August 2017 E. 4.4.1; 8C_805/2016 vom 22. März 2017 E. 3.4.3.
  • 6. Vgl. dazu Thomas Gächter/Michael Meier, Rechtsprechung des Bundesgerichts im Bereich der Invalidenversicherung, SZS 2017, S. 289 ff., 310.
  • 7. BGE 138 V 457 E. 3.1 S. 459 f.
  • 8. BGer-Urteil 9C_954/2012 vom 10. Mai 2013.
  • 9. BGer-Urteil 8C 345/2013 vom 10. September 2013 E. 4.3.
iusNet AR-SVR 08.02.2018