Aktuelle Entwicklungen der Indikatoren-Praxis in der Invalidenversicherung
Aktuelle Entwicklungen der Indikatoren-Praxis in der Invalidenversicherung
Aktuelle Entwicklungen der Indikatoren-Praxis in der Invalidenversicherung
8C_703/2018
1. Vorbemerkung
Um die aktuelle Problematik rund um die Indikatorenprüfung in der Invalidenversicherung zu illustrieren, wird nachfolgend das Urteil 8C_703/2018 vom 13. Juni 2019 dargestellt (vgl. auch die eingehende Besprechung dieses Urteils der Autorin zusammen mit Dr. iur. Philipp Egli, SZS-Online first, 16. September 2019).
2. Sachverhalt
Der 1963 geborene A. war als Journalist tätig und meldete sich am 26. Juli 2016 wegen Depressionen zum Leistungsbezug bei der Invalidenversicherung an. Frühinterventionsmassnahmen führten zu keinem Erfolg. Die IV-Stelle holte ein externes monodisziplinäres Gutachten bei einem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH ein. Danach litt A. mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit insbesondere an einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig leichtgradige depressive Episode mit somatischem Syndrom (ICD-10: F33.01). Gemäss Gutachten war A. im angestammten Beruf als Journalist bis auf Weiteres zu 50% arbeitsunfähig. Für Tätigkeiten ohne grosse Entscheidungskompetenz, zum Beispiel handwerkliche Verrichtungen, mit konstanten Arbeitsabläufen, möglichst eigenem Aufgabenbereich, konstanten Arbeitszeiten ohne Nachtarbeit, Zeitdruck oder konfliktträchtige soziale Interaktion war es A. aus medizinischer Sicht zumutbar, sich stufenweise in einer angepassten Beschäftigung beginnend mit einem Pensum von 50% und einer monatlichen Steigerung von 10% erfolgsversprechend in den Arbeitsmarkt einzugliedern.
Der RAD erachtete das Gutachten als schlüssig. Die IV-Stelle verweigerte aber eine Rente. Mangels eines Gesundheitsschadens mit invalidisierender Wirkung im Rechtssinne bestehe kein Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung.
3. Verwaltungsgericht Bern
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern schützte den Entscheid. Es würdigte zwar, dass das Gutachten umfassend, einleuchtend und begründet sei und daher «grundsätzlich vollen Beweis» erbringe, prüfte aber davon losgelöst nach Massgabe des strukturierten Beweisverfahrens («Prüfraster rechtlicher Natur»), ob die gesundheitliche Situation des Versicherten eine Invalidität zu begründen vermochte. Diese Prüfung führte die Vorinstanz zum Schluss, es liege keine schwere Ausprägung der diagnose-relevanten Befunde und Symptome vor; ein «definitives Scheitern» der Therapie sei zu verneinen, weshalb von einer positiven Prognose bei vermutlich längerem Verlauf auszugehen sei. Auch die Komorbiditäten sprächen nicht gegen die Überwindbarkeit der psychischen und psychosomatischen Einschränkungen. Zudem verfüge A. über zahlreiche mobilisierbare Ressourcen (Kontaktfähigkeit zu Dritten, Selbstbehauptungsfähigkeit, Fähigkeit zu ausserberuflichen Aktivitäten und Wegefähigkeit, soziales Netzwerk, Kommunikationsfähigkeit, Bildungsniveau, Motivation und Therapieadhärenz). Insbesondere der Tagesablauf, der soziale Kontext mit einem Freundeskreis, bestehend aus drei Kollegen, regelmässigem Kontakt zu seinen Kindern und zu seiner Freundin liessen nicht auf eine erhebliche funktionelle Einschränkung schliessen. Hinsichtlich Konsistenz sei festzuhalten, dass A. in den Alltags- und Freizeitaktivitäten nicht erheblich eingeschränkt sei. Aus diesen Gründen komme der rezidivierenden depressiven Störung keine invalidisierende Wirkung zu (E. 3.4).
4. Bundesgericht
Das Bundesgericht bestätigte in Fünfer-Besetzung und nach öffentlicher Beratung den vorinstanzlichen Entscheid. Es stellte insbesondere fest, dass die Voristanz im Rahmen der Beweiswürdigung den Sachverhalt korrekt festgestellt habe. Das kantonale Gericht habe insbesondere keine juristische Parallelüberprüfung vorgenommen, sondern anhand der medizinischen Indikatorenprüfung die massgeblichen Beweisthemen abgehandelt und daraus geschlossen, dass aus juristischer Sicht der medizinisch attestierten Arbeitsunfähigkeit nicht gefolgt werden könne. Es stelle keine Rechtsverletzung dar, wenn die Vorinstanz der gutachterlich attestierten 50%-igen Arbeitsunfähigkeit in der angestammten Tätigkeit die rechtliche Relevanz abgesprochen und festgestellt habe, es liege kein invalidisierender Gesundheitsschaden vor (E. 4.2.3.2).
5. Bemerkungen
Mit BGE 141 V 281 hat das Bundesgericht eine ergebnisoffene Beurteilung anhand so genannter Standardindikatoren an die Stelle der Überwindbarkeitspraxis (Foerster-Kriterien) gesetzt. Das dargestellte Urteil zeigt exemplarisch, dass nach der Abschaffung der Überwindbarkeitsvermutung die Aufgabenteilung zwischen Medizin und Recht noch immer nicht geklärt ist.
Gemäss den bundesgerichtlichen Vorgaben nimmt bei der Abschätzung der Folgen aus den diagnostizierten gesundheitlichen Beeinträchtigungen zuerst die sachverständige Person Stellung zur Arbeitsfähigkeit. Ihre Einschätzung bildet eine wichtige Grundlage für die anschliessende juristische Beurteilung der Frage, welche Arbeitsleistung der versicherten Person noch zugemutet werden kann (BGE 141 V 281 E. 5.2.1). Die Gutachtensfrage lautet damit, wie die sachverständige Person das Leistungsvermögen einschätzt, wenn sie dabei den einschlägigen Indikatoren folgt. Die Rechtsanwender prüfen nach dieser Praxis die betreffenden Angaben frei, insbesondere daraufhin, ob die Sachverständigen sich an die massgebenden normativen Rahmenbedingungen gehalten haben, das heisst, ob sie ausschliesslich funktionelle Ausfälle berücksichtigt haben, welche Folgen der gesundheitlichen Beeinträchtigung sind (Art. 7 Abs. 2 erster Satz ATSG), sowie, ob die versicherungsmedizinische Zumutbarkeitsbeurteilung auf objektivierter Grundlage erfolgt ist (Art. 7 Abs. 2 zweiter Satz ATSG). Recht und Medizin tragen dabei, je nach ihren fachlichen und funktionellen Zuständigkeiten, zur Feststellung ein und derselben Arbeitsunfähigkeit bei. Es geht nach dieser neueren bundesgerichtlichen Praxis insbesondere nicht darum, dass die medizinischen Sachverständigen eine quasi freihändige Beurteilung abgeben und daneben noch Grundlagen liefern sollen, anhand derer die Rechtsanwender eine von der subjektiven ärztlichen Einschätzung losgelöste Parallelüberprüfung vornehmen (BGE 141 V 281 E. 5.2.2 und E. 5.2.3).
Auch wenn sich das Leiturteil explizit gegen eine Parallelüberprüfung auf juristischer Ebene ausspricht, sind in der letzten Zeit – wie im soeben dargestellten Fall – immer wieder Bundesgerichtsurteile ergangen, in denen ebensolche Parallelüberprüfungen vorgenommen oder kantonale Parallelüberprüfungen bestätigt wurden, um einen Rentenanspruch mit der Begründung abzulehnen, es liege aus «juristischer Sicht» kein invalidisierender Gesundheitsschaden vor. Dieses Vorgehen ist insbesondere dann zu beobachten, wenn die rechtsanwendenden Behörden aufgrund von gutachterlichen Schilderungen aus dem Alltag der versicherten Person auf Inkonsistenzen schliessen und deshalb die Arbeitsfähigkeit im Widerspruch zu medizinisch festgestellten Arbeitsunfähigkeiten quasi «freihändig» verneinen (vgl. z.B. 9C_478/2019 vom 30. September 2019, in der Tendenz auch 9C_27/2019 vom 27. Juni 2019). Im Gegensatz dazu sind in jüngster Zeit aber auch Urteile ergangen, in denen das Bundesgericht zum Beispiel festgestellt hat, dass gewisse Inkonsistenzen und der Einfluss der psychosozialen Faktoren nicht genügend abgeklärt seien, weshalb die Sache an die Vorinstanz zur Einholung eines Gerichtsgutachtens zurückzuweisen sei (9C_371/2019 vom 7. Oktober 2019; vgl. ferner 9C_18/2019 vom 29. Juli 2019). Ebenfalls hat das Bundesgericht in einem anderen Fall befunden, dass bei Diskrepanzen zwischen der gutachterlich festgestellten Arbeitsunfähigkeit und allfälligen Inkonsistenzen Rückfragen an die Gutachter notwendig seien und die Vorinstanz nicht einfach eine eigene Indikatorenprüfung vornehmen könne, weshalb es die Sache ebenfalls zur Einholung eines Gerichtsgutachtens zurückgewiesen hat (8C_369/2019 vom 1. Oktober 2019, in diese Richtung auch 9C_463/2019 vom 25. September 2019).
Dies zeigt, dass der Umgang mit den Indikatoren in der Rechtspraxis noch nicht geklärt ist. Gemäss BGE 141 V 281 und nach hier vertretener Ansicht ist es primär die Aufgabe der Medizin, Diagnosen zu stellen und die funktionelle Leistungsfähigkeit zu schätzen. Aufgabe der Rechtsanwendenden ist es, diese Grundlagen beweisrechtlich zu würdigen und die weiteren Schlüsse auf die Erwerbsfähigkeit und damit den Rentenanspruch zu ziehen. Denn: welche Bedeutung käme einer gutachterlichen Arbeitsunfähigkeitsschätzung zu, wenn aus juristischer Sicht die Möglichkeit bestünde, eine eigene Einschätzung über die medizinische zu setzen? Aus BGE 141 V 281 geht klar hervor, dass eine solche juristische Parallelüberprüfung nicht zu lässig ist. Wenn eine gutachterliche Einschätzung nicht überzeugt, dann sollten die in den letztgenannten Urteilen geforderten Rückfragen und das Einholen besserer Entscheidgrundlagen die Mittel der ersten Wahl sein, um festgestellte Diskrepanzen zu klären. Rückweisungen an die kantonale Instanz zur Klärung der Inkonsistenzen sind erstaunlicherweise aber noch immer selten (vgl. auch MICHAEL E. MEIER, Auswirkungen der neuen Schmerzrechtsprechung, in: Stephan Weber (Hrsg.), Personen-Schaden-Forum 2018, S. 77). Nach hier vertretener Ansicht sind es nämlich die medizinischen Fachpersonen – und nicht die Juristinnen und Juristen – die unter Berücksichtigung weiterer medizinischer Faktoren und unter Ausschluss nicht medizinischer Aspekte aufzeigen können, wie sich ein inkonsistentes Verhalten konkret in der Einschätzung der Arbeitsfähigkeit niederschlägt. Nur so gelingt auch aus juristischer Sicht eine ergebnisoffene Beurteilung des Rentenanspruchs anhand des in BGE 141 V 281 etablierten strukturierten Beweisverfahrens. Die Entwicklungen in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu diesen Grundsatzaspekten des Invalidenrentenrechts gilt es somit weiterhin zu beobachten.