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MEDAS: Unabhängigkeit stärken, nicht schwächen!

MEDAS: Unabhängigkeit stärken, nicht schwächen!

Kommentierung
Invalidenversicherung
Allgemeines Sozialversicherungsrecht (ATSG)

MEDAS: Unabhängigkeit stärken, nicht schwächen!

Die Medizinischen Abklärungsstellen (MEDAS) sind von der Invalidenversicherung wirtschaftlich abhängig. Dennoch werden MEDAS-Gutachten den Gutachten von unabhängigen Sachverständigen gleichgestellt, auf deren Aussagen sich Verwaltung und Gerichte im Regelfall verlassen können. Dieses Dilemma wird seit BGE 137 V 210 auch höchstrichterlich anerkannt. Seither sind verschiedene Massnahmen zur Stärkung von Qualität und Akzeptanz der MEDAS-Gutachten eingeleitet worden.

Im Rahmen der Weiterentwicklung der Invalidenversicherung sollen diese Massnahmen zur Stärkung von Qualität und Akzeptanz der MEDAS-Gutachten in Gesetzesform gegossen werden (Art. 44 E-ATSG). Doch die Vorlage weist mehrere Mängel auf. Vor allem springt ins Auge, dass das Erfordernis der Unabhängigkeit der Sachverständigen gestrichen werden soll (Art. 44 Abs. 1 E-ATSG), ohne dass die Botschaft darauf mit einem einzigen Wort eingeht. Im Gegenteil: Gemäss Bundesrat kann die Abklärung des Sachverhalts "ein Gutachten einer unabhängigen medizinischen Abklärungsstelle erfordern".

In der Tat ist die Unabhängigkeit der Sachverständigen eine anerkannte Massnahme zur Qualitätssicherung und zur Gewährleistung der Verfahrensfairness. Eine Streichung ist daher nicht sachgerecht. Mit ihr läuft man Gefahr, die wirtschaftliche Abhängigkeit der MEDAS von der Invalidenversicherung gesetzlich abzusegnen. Damit droht das eingangs erwähnte Dilemma einseitig zugunsten der Verwaltung aufgelöst zu werden, worunter Qualität und Fairness im Sozialversicherungsverfahren unweigerlich leiden würden. Konsequenterweise müsste das Bundesgericht die Vertrauenswürdigkeit (d.h. den Beweiswert) von MEDAS-Gutachten deutlich herabstufen, was auf einen Anspruch auf ein Gerichtsgutachten hinauslaufen und damit die Verfahren erheblich verlängern und verteuern könnte.

Bedauernswert ist weiter, dass zwar eine Qualitätssicherungsstelle geschaffen werden soll, allerdings nicht vorgesehen ist, deren Unabhängigkeit gesetzlich zu verankern (Art. 44 Abs. 6 lit. c E-ATSG). Damit wären künftig weder die Unabhängigkeit der Sachverständigen noch die Unabhängigkeit der administrativen Qualitätssicherung gesichert. Weiter vermag es nicht zu überzeugen, dass gewisse Qualitätssicherungsmassnahmen auf polydisziplinäre Gutachten begrenzt sein sollen (Art. 44 Abs. 6 lit. a und c E-ATSG). Die heutigen Fairnessdefizite bei mono- und bidisziplinären Gutachten drohen damit gesetzlich akzeptiert zu werden. Gerade bei diesen Gutachten dürfte sich die erwähnte Streichung des Unabhängigkeitserfordernisses besonders bedenklich auswirken, da administrative Qualitätsvorkehren hier bis heute weitgehend fehlen.1

Hinzu kommen weitere zweifelhafte Neuerungen.2 So werden etwa die vom Bundesgericht bewusst grosszügig zugelassenen Ausstandsgründe gegen medizinische Sachverständige auf das gesetzliche Minimum beschränkt (Art. 44 Abs. 2 E-ATSG), womit eine weitere Qualitätssicherungsmassnehme – ebenfalls ohne Begründung – voreilig über Bord geworfen werden soll. Auch soll die Anfechtbarkeit von Verfügungen über die Zulassung bzw. Ablehnung von Zusatzfragen ausgeschlossen werden (Art. 44 Abs. 3 E-ATSG). Letzteres würde aber wohl nicht allzu stark ins Gewicht fallen, da die Anfechtung auch heute nur sehr eingeschränkt möglich ist.3 Dagegen ist im Alltag bedeutsam, dass die kurzen Fristen zur Ausübung der Mitwirkungsrechte künftig gesetzlich geregelt und damit nicht mehr erstreckbar sein sollen (Art. 44 Abs. 2 und 3 E-ATSG).

Es bleibt zu hoffen, dass das Parlament Remedur schafft. Die Vorlage sollte sich nach meiner Auffassung auf die dringend notwendige und bundesgerichtlich mehrfach angemahnte Stärkung der aufsichtsmässigen Qualitätssicherung und namentlich die Schaffung einer unabhängigen (!) Qualitätssicherungsstelle beschränken.4  Dazu wäre die vorgeschlagene Regelung bei den (einzel-)gesetzlichen Aufsichtsnormen wohl besser aufgehoben als bei den Normen zum Sozialversicherungsverfahren. Dagegen sollte Art. 44 ATSG unverändert belassen werden. Auf die gesetzliche Verankerung gerichtlich ausgebauter Mitwirkungsrechte kann verzichtet werden, zumal diese bei Verwirklichung griffiger aufsichtsmässiger Qualitätssicherungsmassnahmen möglicherweise zurückgefahren werden können. Die Rechtsprechung kann diesbezüglich schneller reagieren als der Gesetzgeber.

Zu warnen ist jedoch vor einem voreiligen Abbau von Mitwirkungsrechten oder gar dem Verzicht auf die Unabhängigkeit der Sachverständigen. Denn der Tatbeweis griffiger administrativer Qualitätssicherungsmassnahmen wird erst noch zu erbringen sein. In ihrer heutigen Fassung ist die Vorlage wenig geeignet, entsprechendes Vertrauen zu schaffen. Bis der Tatbeweis erbracht ist, bleiben ausgebaute Mitwirkungsrechte für ein faires Sozialversicherungsverfahren unverzichtbar.

Fazit: Die Unabhängigkeit medizinischer Gutachten sollte gestärkt statt geschwächt werden. Dazu braucht es namentlich eine unabhängige Qualitätssicherungstelle. In ihrer heutigen Form überzeugt die Vorlage nicht: Bern, bitte nachbessern!

  • 1. Vgl. dazu Philipp Egli, Pflicht zur Herstellung der Spruchreife durch das Gericht?, in: "Justice - Justiz - Giustizia" 2016/4, Rz. 48.
  • 2. Dazu näher Massimo Aliotta, Begutachtungen im Bundessozialversicherungsrecht, Zürich 2017, S. 518 ff.
  • 3. BGE 141 V 330.
  • 4. Vgl. zu einzelnen Massnahmen insb. BGE 139 V 349 E. 5.5 S. 357 f.
iusNet AR-SVR 18.12.2017