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Beweiskraft von ärztlichen Zeugnissen

Beweiskraft von ärztlichen Zeugnissen

Kommentierung
Öffentliches Personalrecht

Immer wieder kommt es im Arbeitsverhältnis zum Streit darüber, ob ein Arztzeugnis über eine Arbeitsunfähigkeit im konkreten Fall beweiskräftig ist oder nicht. Insbesondere dann, wenn die Arztzeugnisse rückwirkend ausgestellt werden, stellen Arbeitgebende diese regelmässig in Frage. Das Bundesverwaltungsgericht hatte in seinem Entscheid A-536/2019 vom 9. Dezember 2019 erneut die Möglichkeit, sich zu diesem Thema zu äussern. Es stellte dabei wie in früheren Entscheiden (vgl. Urteile des BVGer A-4973/2012 vom 5. Juni 2013 E. 4.2 und A-6509/2010 vom 22. März 2011 E. 10.2) fest, dass ein rückwirkend ausgestelltes Arztzeugnis durchaus glaubhaft sein kann. Gerade in der aktuellen Pandemie-Situation scheint diese Feststellung von Interesses, weshalb der Entscheid näher erörtert wird.

Im konkreten Fall kündigte die SBB einem alkoholkranken Mitarbeiter. Zwei Tage später bescheinigte der Arzt dem Mitarbeiter rückwirkend, dass er bereits seit einem Tag vor Zugang der Kündigung krankheitsbedingt arbeitsunfähig gewesen sei. Die SBB akzeptierte zwar den ärztlichen Befund, nicht aber die Rückwirkung des Arztzeugnisses. Der Mitarbeiter hatte die Arbeitgeberin einen Tag vor der Kündigung mitgeteilt, er würde Ferien beziehen und habe dabei in keiner Art und Weise zum Ausdruck gebracht, arbeitsunfähig zu sein. Die Vorinstanz kam aus diesem Grund denn auch zum Schluss, die Kündigung sei nicht zur Unzeit erfolgt; vielmehr habe sich der Gesundheitszustand des Mitarbeiters nach Erhalt der Kündigung derart verschlechtert, dass die Arbeitsunfähigkeit nach Ausstellen der Kündigung eintrat (Sachverhalt Ziffer E.).

Das Bundesverwaltungsgericht hielt fest, dass ein rückwirkend ausgestelltes Arztzeugnis zwar nicht unproblematisch sei, aber nicht von vornherein als ungültig erachtet werden könne. Vorliegend fehlte es gemäss Bundesverwaltungsgericht an objektiven Anhaltspunkten, um dessen Richtigkeit in Zweifel zu ziehen (E. 4.6). Zudem ergab sich aus der Zeit vor Erhalt der Kündigung, dass der Arbeitnehmer unter erheblichen gesundheitlichen Problemen litt. Die Rückwirkung war deshalb vorliegend mit drei Tagen nicht als übermässig zu betrachten. Die Kündigung war deshalb nichtig (E. 4.6).

Das Arztzeugnis stellt lediglich eine Parteibehauptung dar und ist kein strikter Beweis. Auch darf von einer allfälligen Ferienfähigkeit nicht ohne weiteres auf die Arbeitsfähigkeit geschlossen werden. Das Bundesverwaltungsgericht führt ferner aus, dass der zeitliche Kündigungsschutz keine Kenntnis der Arbeitsunfähigkeit voraussetzt und es ist grundsätzlich auch unerheblich, ob der Arbeitgeber darüber informiert ist (E. 3.5).

Das Bundesverwaltungsgericht bestätigt mit diesem Urteil seine bisherige Rechtsprechung. Aufgrund des Entscheides könnte man sich allerdings fragen, ob Arbeitnehmende nicht immer sofort einen Arzt aufsuchen sollten, sobald sie Krankheitssymptome verspüren, damit sie frühzeitig ein Arztzeugnis vorlegen können. Das erscheint einerseits wenig sinnvoll, weil die Arbeitgebenden das Arztzeugnis oft erst ab dem dritten Krankheitstag verlangen. Andererseits zeigt der Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts auf, dass Arztzeugnisse im Einzelfall eine Rückwirkung entfalten können. Massgebend ist letztlich immer der Einzelfall und es muss im konkreten Fall geprüft werden, ob die Rückwirkung gerechtfertigt war/ist.

Diese erwähnten Urteile beziehen sich zwar auf das öffentliche Recht, verweisen bei den Erwägungen jedoch auf das private Arbeitsrecht, weshalb bestätigt werden kann, dass hier grundsätzlich Ähnliches gilt. Rückwirkende Arztzeugnisse sind nicht unproblematisch, aber auch nicht grundsätzlich unzulässig. Diese kommen im privatrechtlichen Arbeitsverhältnis ziemlich häufig vor, was eben nicht zuletzt daran liegt, dass ein Patient nicht bereits am ersten Krankheitstag einen Arzt aufsucht. In Personalreglementen wird oft festgelegt, dass ein Arztzeugnis erst ab dem 4. Krankheitstag einzureichen ist, weshalb der Gang zum Arzt in den ersten drei Tagen gar nicht erforderlich ist. Zweifel an rückwirkenden Arztzeugnissen sind zumindest dann angebracht, wenn weitere Umstände vorliegen, welche die behauptete Arbeitsunfähigkeit fraglich erscheinen lassen. Auch kantonale Gerichte haben in Bezug auf privatrechtliche Arbeitsverhältnisses bereits festgestellt, dass retroaktive Arztzeugnisse zwar nicht per se für unzulässig zu erachten sind, doch komme ihnen dann, wenn sie sich nicht auf objektive Befunde stützen könnten, sondern nur auf Patientenschilderungen beruhten, ein geringer Beweiswert zu (JAR 2008, S. 376 E. 3.4).

Gemäss den Empfehlungen der FMH müssen Ärzte bei der Ausstellung eines rückwirkenden Arbeitsunfähigkeitszeugnisses besonders auf Transparenz achten. Der Arzt muss festhalten, was er selbst festgestellt bzw. was er auf Angaben des Patienten attestiert hat. Das Zeugnis muss auf jeden Fall das Anfangsdatum der Arbeitsunfähigkeit, das Ausstellungsdatum sowie das Datum der ersten Behandlung beinhalten. Die Rückwirkung sollte grundsätzlich nicht mehr als eine Woche betragen. Es handelt sich hierbei um Empfehlungen, weshalb im Einzelfall m.E. auch rückwirkende Arztzeugnisse über mehr als eine Woche nicht automatisch als ungültig zu taxieren wären. Vielmehr wären die Umstände der Ausstellung des Zeugnisses näher unter die Lupe zu nehmen. 

Auch die aktuelle Pandemie-Situation ist ein Anwendungsfeld für diese Praxis. Nicht von Covid 19-Symptomen betroffene Menschen sollten nur dann eine Arztpraxis aufsuchen, wenn es aufgrund der Umstände dringend notwendig ist. Konsequenterweise dürften einige dieser Arztzeugnisse rückwirkende Geltung haben, was demnach nicht grundsätzlich zu beanstanden ist, solange die Rückwirkung sich im Rahmen hält.

iusNet AR-SVR 22.11.2020