Eingliederungsmassnahmen für Kinder von Grenzgängern? (9C_773/2016, zur Publikation bestimmt)
Eingliederungsmassnahmen für Kinder von Grenzgängern? (9C_773/2016, zur Publikation bestimmt)
Eingliederungsmassnahmen für Kinder von Grenzgängern? (9C_773/2016, zur Publikation bestimmt)
Der Gesuchsteller, ein 1994 geborener deutsch-französischer Doppelbürger, wohnt bei seinen Eltern in Frankreich und leidet an einem Geburtsgebrechen. Der Vater ist französischer Staatsangehöriger und arbeitet seit 2008 als Grenzgänger in der Schweiz, wo er der AHV und der IV unterstellt ist. Die zuständige IV-Stelle verweigerte dem Gesuchsteller eine erstmalige berufliche Ausbildung in der Schweiz (Art. 16 IVG). Dieser Entscheid wird vom Bundesgericht im vorliegenden, zur Publikation bestimmten Urteil bestätigt.
Unbestritten war, dass nach internem Recht kein Anspruch auf berufliche Massnahmen bestand, da der Gesuchsteller die versicherungsmässigen Voraussetzungen nach Art. 9 Abs. 2 IVG nicht erfüllte (E. 4.1). Hingegen prüfte das Bundesgericht eingehend, ob das FZA und insb. die VO 883/2004 zu einer abweichenden Beurteilung führten.
Das Bundesgericht befasste sich zunächst mit dem sachlichen Anwendungsbereich der VO 883/2004 (Art. 3 VO 883/2004) (E. 5.1) und umschrieb allgemein, wann eine Sozialversicherungsleistung im Sinne der Verordnung vorliegt: Dies ist der Fall, wenn sie dem Empfänger nicht nach Ermessen oder aufgrund einer individuellen Einschätzung seiner Bedürfnisse zugesprochen wird, sondern aufgrund einer klaren, in einem Gesetz geregelten Situation und wenn sie sich auf ein Risiko bezieht, das in Art. 3 VO 883/2004 ausdrücklich erwähnt wird (E. 5.2). Die Leistung muss einen genügenden Bezug zu einem der in Art. 3 Abs. 1 VO 883/2004 abschliessend genannten Risiken aufweisen (E. 5.2).Letzeres war vorliegend zu prüfen, namentlich ob eine Leistung bei Krankheit, bei Invalidität oder bei Arbeitslosigkeit vorlag (E. 5.3). Medizinische Eingliederungsmassnahmen zählen nach der Rechtsprechung zu den Leistungen bei Krankheit, während eine Umschulung (Art. 17 IVG) unter Geltung der VO 1408/71 zu den Leistungen bei Invalidität gerechnet wurde (E. 5.3.2). Die vorliegend strittige erstmalige berufliche Ausbildung nach Art. 16 IVG subsumiert das Bundesgericht unter die Leistungen bei Invalidität nach Art. 3 Abs. 1 lit. c VO 883/2004 (E. 5.3.3 und E. 5.3.4).
Anschliessend äussert sich das Bundesgericht zum anwendbaren Recht (E. 6.1). Nichterwerbstätige Personen wie der Gesuchsteller sind grundsätzlich den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaates unterstellt (E. 6.2). Die VO 883/2004 sieht nicht vor, die gleiche Gesetzgebung auf den Gastarbeiter und die Mitglieder seiner Familie anzuwenden, die keine Erwerbstätigkeit ausüben und in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat wohnen (E. 6.2). Weiter sind die Bestimmungen des Titels III der VO 883/2004 auf die vorliegende Naturalleistung nicht anwendbar (E. 6.3). Daher waren auf den Gesuchsteller die Vorschriften des französischen Rechts anwendbar.
Zum Schluss prüfte das Bundesgericht, ob das Gleichbehandlungsgebot (Art. 4 VO 883/2004) zur Anwendbarkeit des Schweizer Rechts führte. Das Bundesverwaltungsgericht hatte eine (indirekte) Diskriminierung bejaht (E. 7.2). Streitpunkt war hier die freiwillige Versicherung nach Art. 2 AHVG, die vorliegend relevant war, da Eingliederungsmassnahmen u.a. den Kindern von freiwillig versicherten Personen (Art. 9 Abs. 2 lit. a IVG), nicht aber den ausländischen Kindern von in der Schweiz arbeitenden Grenzgängern offenstehen.
Gemäss Bundesgericht sind die Voraussetzungen für die freiwillige Versicherung nach Art. 2 AHVG von einem Schweizer Bürger leichter zu erfüllen als von einem ausländischen Staatsangehörigen, weshalb der Tatbestand der indirekten Diskriminierung grundsätzlich erfüllt ist (E. 7.4.1). Doch war man sich dessen bei Abschluss des FZA bewusst (vgl. Bst. i des Anhangs II zum FZA), was das Bundesgericht zu respektieren hat (E. 7.4.1).
Weiter soll das Anknüpfen an der freiwilligen Versicherung nach Art. 9 Abs. 1 lit. a IVG einem Kind den ansonsten verschlossenen Zugang zu Sozialversicherungsleistungen (Eingliederungsmassnahmen) der Schweiz oder eines Mitgliedstaates ermöglichen (E. 7.4.2). Der Gesuchsteller machte nun aber nicht geltend, dass er keinen Zugang zu französischen Sozialversicherungsleistungen hatte. Auch besteht bei Eingliederungsmassnahmen ein enger Bezug zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt der Schweiz. Insgesamt ist es nach Auffassung des Bundesgerichts gerechtfertigt, den Anspruch von nichtversicherten Personen unter 20 Jahren auf eine erstmalige berufliche Ausbildung zulasten der IV auf (Ausnahme-)Situationen einzuschränken, in denen der Betroffene keinen Zugang zum Schweizer Sozialversicherungssystem oder zum Sozialversicherungssystem eines Mitgliedstaates hat (E. 7.4.2).
Das Gleichbehandlungsgebot nach Art. 4 VO 883/2004 ist nicht verletzt, auch wenn ein EU-Bürger, der in einem Drittland lebt, sich bei gegebenen Voraussetzungen der freiwilligen Versicherung anschliessen kann, während dies bei einem EU-Bürger, der in Frankreich lebt, nicht der Fall ist (E. 7.5).
Bemerkungen der Redaktion: An dieser Stelle sei noch auf zwei andere aktuelle Entscheide des Bundesgerichts zum FZA hingewiesen, die ebenfalls im Zusammenhang mit der Invalidenversicherung ergangen sind: Vgl. zum FZA und Art. 9 Abs. 3 IVG den Beitrag Stiefkinder als Familienangehörige? (9C_97/2017, zur Publikation bestimmt) sowie zum persönlichen Anwendungsbereich des FZA das am 7. Februar 2017 veröffentlichte BGer-Urteil 9C_547/2017 vom 16. Januar 2018, wonach das FZA nicht anwendbar ist auf eine dominikanische Staatsangehörige, die mit einem italienischen Staatsangehörigen verheiratet ist, der in der Schweiz geboren ist und stets hier gelebt und gearbeitet hat. Es fehlt in dieser Konstellation am grenzüberschreitenden Sachverhalt (E. 4 mit Hinweis auf BGE 143 V 81).