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Invaliditätskonforme Tabellenlöhne – ein Überblick

Invaliditätskonforme Tabellenlöhne – ein Überblick

Kommentierung
Invalidenversicherung

Invaliditätskonforme Tabellenlöhne – ein Überblick

Kommentar zur Motion Nr. 22.3377 vom 6. April 2022

I.            Einleitung

Am 1. Juni 2022 hat der Nationalrat die Motion seiner Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit betreffend «Invaliditätskonforme Tabellenlöhne bei der Berechnung des IV-Grads» (Nr. 22.3377) einstimmig angenommen und dem Ständerat überwiesen. Mit der Motion soll der Bundesrat beauftragt werden, bis zum 30. Juni 2023 eine Bemessungsgrundlage zu implementieren, welche bei der Ermittlung des Einkommens mit Invalidität mittels statistischer Werte realistische Einkommensmöglichkeiten von Personen mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung berücksichtigt.

Die Motion nimmt mit den invaliditätskonformen Tabellenlöhnen ein zentrales Anliegen zur Gewährleistung einer gesetzeskonformen Invaliditätsbemessung in der Invalidenversicherung (IV) auf. Wir verweisen hierzu auf unser umfassendes Rechtsgutachten, das wir zusammen mit Prof. Thomas Gächter und Dr. Michael E. Meier erstellt haben1. Wichtige Erkenntnisse fassen wir nachfolgend zusammen (II.–VI.), wobei der Fokus auf den Tabellenlöhnen (IV.) und den ungenügenden Korrekturinstrumenten (V.) liegt. Der Beitrag schliesst mit einem Fazit und Ausblick (VI.).  

II.           Wie bemisst sich die Invalidität?

Invalidität ist die voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit (Art. 8 Abs. 1 ATSG). Erwerbsunfähigkeit ist der durch die Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit verursachte und nach zumutbarer Behandlung und Eingliederung verbleibende ganze oder teilweise Verlust der Erwerbsmöglichkeiten auf dem in Betracht kommenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt (Art. 7 Abs. 1 ATSG).

Der Verlust der Einkommensmöglichkeiten bestimmt sich durch einen Einkommensvergleich: Dazu wird – vereinfacht gesagt – das nach Eintritt der Invalidität erzielbare Einkommen verglichen mit dem Einkommen, das die betroffene Person ohne Eintritt der Invalidität erzielen könnte (Art. 28a IVG i.V.m. Art. 16 ATSG). Die Einkommensdifferenz in Prozenten ergibt den sog. Invaliditätsgrad. Anhand dieser Prozentzahl bestimmt sich die Höhe der IV-Rente. Ab einem Einkommensausfall von 40 % richtet die IV eine teilweise Rente (Viertelsrente) aus, ab 70 % eine ganze Rente (Art. 28a IVG). Im Bereich zwischen 40 % und 70 % wirkt sich jedes Prozent Einkommensdifferenz (41 %, 42 % usw.) auf die Höhe der Rente aus. Die frühere Abstufung in Viertelsrente, halbe Rente, Dreiviertelsrente und ganze Rente ist seit 1. Januar 2022 entfallen.

Die Invalidität, verstanden als gesundheitlich bedingter Verlust an Verdienstmöglichkeiten, setzt nach geltendem Recht voraus, dass die erwerblichen Auswirkungen wirklichkeitsnah und individuell – sprich: «so konkret wie möglich» – bestimmt werden2. Dazu kann nicht einfach auf den effektiven Verdienstausfall abgestellt werden, denn möglicherweise schöpft eine Person ihre verbleibenden Verdienstmöglichkeiten nicht aus. Denkbar ist bspw., dass eine Person freiwillig weniger arbeitet, als ihr gesundheitlich zumutbar wäre. Oder eine Person findet in konjunkturell schwierigen Zeiten keinen Job. Arbeitslosigkeit ist aber nicht über die IV versichert. Entscheidend ist daher nicht der effektive Erwerbsausfall einer Person, sondern der gesundheitlich bedingte «Verlust der Erwerbsmöglichkeiten auf dem in Betracht kommenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt» (Art. 7 Abs. 1 ATSG).

Der «in Betracht kommende ausgeglichene Arbeitsmarkt» ist ein Schlüsselbegriff zur Invaliditätsbemessung. Zweck des «ausgeglichenen Arbeitsmarktes» ist es, beim Einkommensvergleich von momentanen Schwankungen und Zufälligkeiten auf dem Arbeitsmarkt (z.B. Konjunkturkrisen) abzusehen3. Ansonsten würde der Einkommensausfall – und damit der Invaliditätsgrad – je nach Wirtschaftslage stark schwanken. Schon bei der Einführung der IV hat man die Verdienstmöglichkeiten nach den durchschnittlichen Arbeitsmarktverhältnissen beurteilt. Der «ausgeglichene Arbeitsmarkt» ist also nicht mit dem tatsächlichen Arbeitsmarkt gleichzusetzen.

III.          Fakten oder Fiktion?

Massgebend ist gemäss Gesetz «der in Betracht kommende ausgeglichene Arbeitsmarkt». Das bedeutet: Versicherte dürfen nur auf Verdienstmöglichkeiten verwiesen werden, die ihnen erfahrungsgemäss wirklich zugänglich sind4. Bei normaler Konjunkturlage müssen realistische Verdienstmöglichkeiten bestehen.

Hier setzt die Kritik an der gegenwärtigen Verwaltungs- und Gerichtspraxis an. Sie hat sich immer stärker von den tatsächlichen Verhältnissen auf dem Arbeitsmarkt gelöst. Heute ist der ausgeglichene Arbeitsmarkt ein rein fiktiver Arbeitsmarkt, auf dem jedermann ein seinen geistigen und körperlichen Fähigkeiten und seiner Ausbildung entsprechender Arbeitsplatz offensteht5. Bewusst ausgeblendet werden auf dem fiktiven Arbeitsmarkt namentlich die fehlenden oder verringerten Chancen gesundheitlich beeinträchtigter Personen, eine Arbeitsstelle zu finden6. Diese Fiktion betrifft – im Grundsatz – nicht nur die Verwertbarkeit einer allfälligen Restarbeitsfähigkeit (das «Ob»), sondern auch die Höhe des erzielbaren Einkommens (das «Wieviel»). Die Folge: Erwerbliche Nachteile von gesundheitlich beeinträchtigten Personen auf dem Arbeitsmarkt werden bei der Invaliditätsbemessung in der IV weitgehend ausgeklammert.

Diese Tendenz zur zunehmenden Abstrahierung von den tatsächlichen Arbeitsmarktverhältnissen ist problematisch. Was die Verwertbarkeit betrifft, besteht das Risiko, Verdienstmöglichkeiten zu unterstellen, die es in der Realität nicht (mehr) gibt. So verweist das Bundesgericht Versicherte teilweise auf die Arbeit als Parkplatzwächter oder Museumswärter7, also auf Berufe, die es wohl tatsächlich nur noch «im Museum», aber nicht mehr auf dem realen Arbeitsmarkt gibt.

Zur Veranschaulichung das Zitat eines IV-Arztes: «‹Wenn man jetzt ganz boshaft wäre, erläutert der Leiter eines Regionalärztlichen Dienstes dieses Prinzip [des ausgeglichenen Arbeitsmarktes], ‹könnte man sagen, es gibt den Beruf eines Matratzentesters und eines Museumswärters. Beim einen kannst du den ganzen Tag liegen, beim anderen kannst du sitzen, stehen, laufen, reden, ruhig sein, wie du willst. Jeder, der sich bewegen kann, kann das machen›»8.

IV.          Tabellenlöhne: Wo liegt das Problem?

Doch nicht nur die Fiktion der Verwertbarkeit einer Restarbeitsfähigkeit bereitet Mühe. Ebenso problematisch – und für eine Vielzahl von Versicherten wohl noch bedeutender – ist, dass gegenwärtig die erwerblichen Nachteile von gesundheitlich beeinträchtigten Personen bei der Bestimmung der Höhe des Einkommens mit Invalidität ungenügend berücksichtigt werden.

Zur Bestimmung des Einkommens mit Invalidität wird in der Praxis regelmässig zu Lohnstatistiken gegriffen, insbesondere zur schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) des Bundesamts für Statistik BFS (siehe Art. 25 IVV). Dabei handelt es sich um eine schriftliche Befragung, die alle zwei Jahre bei den Unternehmen in der Schweiz durchgeführt wird. Häufig stellen Verwaltung und Gerichte auf sehr aggregierte – fast fiktive – Lohnniveaus ab9. So ist für das Einkommen mit Invalidität grundsätzlich auf Durchschnitts- oder präziser: Medianlöhne über alle Wirtschaftszweige hinweg abzustellen10. Eine Person wird nach der invaliditätsbedingten Aufgabe ihrer bisherigen Tätigkeit grundsätzlich auf den gesamten für sie in Betracht kommenden Arbeitsmarkt verwiesen.

Heikel ist das Abstellen auf solche hoch aggregierten Werte, wenn die versicherte Person damit auf Verdienstmöglichkeiten verwiesen wird, die ihr nicht wirklich zugänglich sind. So fliessen in die lohnstatistischen Durchschnittswerte (= Tabellenlöhne) etwa auch Löhne aus Tätigkeiten ein, welche die versicherte Person nach Eintritt der Invalidität möglicherweise nicht mehr ausüben kann (häufiger Fall: körperlich belastende Tätigkeiten). Allgemein werden in der LSE die Einkommen von zumeist nicht behinderten Personen erhoben11. Die Löhne von Personen mit Behinderung sind indes signifikant tiefer12. Dennoch stellt das Bundesgericht im Ausgangspunkt auf die (Zentral-)Werte der LSE ab – mit dem Argument, es sei zu fingieren, dass auch gesundheitlich beeinträchtigten Personen ein ihren verbleibenden Fähigkeiten entsprechender Arbeitsplatz offensteht13.

Das Bundesgericht hat bereits vor 20 Jahren den Handlungsbedarf anerkannt. Im Jahr 2003 (!) hielt es zu den Lohnstrukturerhebungen Folgendes fest: «Als Durchschnittswerte schliessen sie je nach Art der Behinderung und der übrigen Umstände auch eine mehr oder weniger grosse Zahl von ungeeigneten Arbeitsplätzen mit ein»14. Im Jahr 2013 monierte das Bundesgericht erneut, es fehle an «Erhebungen über die Löhne gesundheitlich eingeschränkter Personen»15. Im Jahr 2016 begrüsste das Gericht «Schritte in Richtung eines präziseren Settings»16. Der frühere Bundesgerichtspräsident Prof. Ulrich Meyer meint dazu: «Die statistischen Löhne im Falle der Invalidität müsste man um 15 bis 25 Prozent senken; einheitlich und linear»17.

Dies zeigt: Die – ursprünglich für einen anderen Zweck geschaffenen – LSE-Tabellen sind in der heutigen Handhabung zur Invaliditätsbemessung nicht geeignet18. Dies vor allem deshalb, weil sie von erzielbaren Einkommen ausgehen, die von den Betroffenen faktisch nicht erreicht werden können. Somit überschätzen die LSE-Tabellen das Lohnniveau für Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen systematisch.

Die Notwendigkeit von Korrekturinstrumenten für die überhöhten Tabellenlöhne ist denn auch vom Bundesgericht jüngst unterstrichen worden. So hat das Bundesgericht dem sog. leidensbedingten Abzug (auch: Tabellenlohnabzug) «überragende Bedeutung» bei der Festsetzung eines möglichst konkreten Invalideneinkommens zugemessen19. Der Tabellenlohnabzug berücksichtigt persönliche und berufliche Merkmale, die sich bei einem gesundheitsbedingten Stellenwechsel lohnmindernd auswirken können (z.B. Art und Ausmass der Behinderung, Beschäftigungsgrad, Lebensalter, Dienstjahre etc.)20. So wird etwa bei «Art und Ausmass der Behinderung» geprüft, ob – verglichen mit einem gesunden Mitbewerber – nur bei Inkaufnahme einer Lohneinbusse reale Chancen auf eine Anstellung bestehen. Die statistischen Löhne der LSE werden dabei um bis zu 25 % gesenkt, wobei klare und einheitliche Kriterien zur Bemessung des Abzugs fehlen («Ermessensfrage»).

Zweifelhaft ist, ob der leidensbedingte Abzug die erforderliche Korrektur der überhöhten Tabellenlöhne leisten kann. Denn nach der (bisherigen) Rechtsprechung dürfen nur Umstände berücksichtigt werden, die auch auf dem ausgeglichenen, sprich: fiktiven Arbeitsmarkt als ausserordentlich zu bezeichnen sind21. Doch auf dem fiktiven Arbeitsmarkt finden auch Menschen mit Behinderung eine Stelle. Man kann sich daher fragen: Wann rechtfertigt sich überhaupt noch ein Abzug? Das mag erklären, weshalb die Praxis zum leidensbedingten Abzug ebenso ausufernd wie inkonsistent ist. Eine einheitliche und rechtsgleiche Festsetzung des Rentenanspruchs wird dadurch gefährdet.

Insoweit ist es nachvollziehbar, dass im Rahmen der Weiterentwicklung der Invalidenversicherung eine einheitliche und konsolidierte Regelung der Korrekturinstrumente angestrebt wurde. Ausdrücklich geregelt ist neu ein Abzug für Teilzeitarbeit (Art. 26bis Abs. 3 IVV). Weiter wird eine präzisere Einschätzung der funktionellen Leistungsfähigkeit (Art. 49 Abs. 1bis IVV) angestrebt sowie die sog. Einkommensparallelisierung (Art. 26 IVV) ausgebaut. Jedes der genannten Instrumente hat seine Berechtigung (siehe V.). Doch keines dieser Instrumente berücksichtigt spezifisch die Erwerbs- und Lohnsituation gesundheitlich beeinträchtigter Personen. Die Einkommensparallelisierung bildet nur Umstände ab, die sich bereits vor Eintritt der gesundheitlichen Beeinträchtigung ausgewirkt haben (siehe Ziff. V/1.). Die Einschätzung der funktionellen Leistungsfähigkeit bezieht sich auf die medizinisch-theoretische Arbeitsfähigkeit und nicht auf die Erwerbsverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt (siehe V/2.). Und der Abzug für Teilzeitarbeit soll spezifisch die Lohneinbussen infolge Teilzeitarbeit ausgleichen. Die drei Instrumente können also nicht kompensieren, dass die (Zentral-)Werte der LSE keine tauglichen Werte für die Löhne gesundheitlich beeinträchtigter Personen sind.

V.           Ungenügende Korrekturinstrumente

1.              Parallelisierung der Einkommen

Mit der sog. (Einkommens-)Parallelisierung wird ein unterdurchschnittliches Einkommen vor Eintritt der Invalidität auf einen branchenüblichen Lohn angehoben (Art. 26 Abs. 2 IVV). Dahinter steckt die Überlegung, dass ein Abstellen auf lohnstatistische Durchschnittswerte (= Tabellenlöhne) nach Eintritt der Invalidität unbillig ist, wenn bereits das Einkommen ohne Invalidität nicht auf einem Durchschnittsniveau lag. Im Fokus stehen dabei Faktoren, die sich schon vor Eintritt der Gesundheitsbeeinträchtigung lohnmindernd ausgewirkt haben (z.B. Aufenthaltsstatus, Nationalität, fehlende Ausbildung und Sprachkenntnisse, Alter). Solche Faktoren sind bei den Vergleichseinkommen gleichermassen zu berücksichtigen.

Die Parallelisierung ist wichtig, aber löst nicht alle Probleme der Invaliditätsbemessung. Nicht berücksichtigt werden mit diesem Instrument Umstände, die sich erst nach Eintritt der Invalidität auswirken. Das gilt namentlich für das Kernanliegen der Motion Nr. 22.3377: Erleiden gesundheitlich beeinträchtigte Personen auf dem Arbeitsmarkt einkommensrelevante Nachteile, so hilft der Blick auf das Einkommen vor Eintritt der Invalidität nicht weiter. Das Problem liegt hier beim Einkommen mit Invalidität und den entsprechenden lohnstatistischen Grundlagen

2.              Funktionelle Leistungsfähigkeit

Die Einschätzung der funktionellen Leistungsfähigkeit betrifft die (medizinische) Beurteilung der Arbeitsfähigkeit einer versicherten Person (Art. 49 Abs. 1bis IVV). Arbeitsfähigkeit bedeutet Präsenzzeit mal Leistungsfähigkeit in % ausgedrückt. Die Leistungsfähigkeit einer Person kann aus verschiedenen Gründen beeinträchtigt sein, etwa weil eine Person aus gesundheitlichen Gründen zusätzliche Pausen benötigt, weil gewisse Arbeiten (z.B. Überkopfarbeiten) nicht mehr möglich sind oder weil die psychische oder kognitive Belastbarkeit (z.B. das Konzentrationsvermögen) eingeschränkt ist. Die Leistungsfähigkeit einer Person kann daher beeinträchtigt sein, auch wenn sie am Arbeitsplatz 100 % präsent ist.

Zu Recht unterstreicht der Bundesrat, dass eine präzise Einschätzung der funktionellen Leistungsfähigkeit wichtiger Bestandteil der medizinischen Beurteilung ist. Allerdings war das schon vor der Weiterentwicklung der IV der Fall; das ist nichts Neues (vgl. aArt. 59 Abs. 2bis IVG). Hinzu kommt: Massstab für die medizinische Einschätzung ist eine «der Behinderung optimal angepasste Tätigkeit». Qualitative und quantitative Einschränkungen (z.B. vermehrter Pausenbedarf, keine Überkopfarbeiten und eingeschränktes Konzentrationsvermögen) werden «nur» insoweit berücksichtigt, als sie sich auch in einer optimal leidensangepassten Tätigkeit auswirken.

Dabei wird nach der gegenwärtigen Praxis davon ausgegangen, dass der ausgeglichene (fiktive) Arbeitsmarkt auch «der Behinderung optimal angepasste Tätigkeiten» umfasst. Von den fehlenden oder verringerten Chancen gesundheitlich beeinträchtigter Personen auf dem Arbeitsmarkt soll weiterhin abstrahiert werden – genau das ist aber die Crux. Sie wird durch eine präzise Einschätzung der funktionellen Leistungsfähigkeit in einer optimal behinderungsangepassten Tätigkeit nicht gelöst.

Insbesondere löst eine präzise Einschätzung der funktionellen Leistungsfähigkeit das Problem fehlender realitätsgerechter Tabellenlöhne nicht. Die Einschätzung der funktionellen Leistungsfähigkeit bezieht sich auf die medizinisch-theoretische Arbeitsfähigkeit und nicht auf die Erwerbsverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt.

VI.          Fazit und Ausblick

Die heutige Situation ist schon rein juristisch fragwürdig, indem die Invalidität in einer Art und Weise bemessen wird, deren Mangelhaftigkeit weitgehend unbestritten ist. Dies ist auch sozialpolitisch bedenklich. Durch das Abstellen auf allzu fiktive Erwerbs- und Lohnverhältnisse drohen die Versicherten durch die Maschen des eidgenössischen Sozialversicherungssystems zu fallen: keine IV-Rente, keine Pensionskassen-Rente, keine Ergänzungsleistungen. Auffangnetz bildet die kantonal finanzierte Sozialhilfe. Eine solche verkappte Sozialpolitik zulasten der Kantone ist auch für die Versicherten problematisch: Prof. Thomas Gächter (Universität Zürich) hat es jüngst als «verdeckten staatspolitischen Skandal» bezeichnet, dass Versicherte zwar Beiträge für die IV bezahlen, aber bei Eintritt des Risikos keine Leistungen erhalten – weil zur Invaliditätsbemessung auf unrealistische Erwerbs- und Lohnverhältnisse abgestellt wird.

Ausgearbeitete Lösungsvorschläge liegen auf dem Tisch. Zu erwähnen ist zunächst die interdisziplinäre Arbeitsgruppe unter Leitung von Prof. Gabriela Riemer-Kafka. Diese Arbeitsgruppe hat eine wissenschaftlich fundierte Methode entwickelt, mit welcher eine praxisrelevante Kategorie von vielfach unzumutbaren Tätigkeiten (körperlich belastende Tätigkeiten) aus den Lohnstatistiken herausgefiltert werden kann22. Allgemein und subsidiär kann auf die lohnstatistischen Erkenntnisse des Büro BASS abgestellt werden, wonach das untere Quartil (0.25-Quartil) der LSE das realistischerweise erzielbare Einkommen von gesundheitlich beeinträchtigten Personen besser abbildet als die Median- bzw. Zentralwerte der LSE23. Die LSE bildet bei beiden Lösungsvorschlägen weiterhin die lohnstatistische Grundlage, wird aber stärker der Erwerbs- und Lohnsituation gesundheitlich beeinträchtigter Personen angenähert.

Gründe für ein weiteres Zuwarten des Bundesrates sind angesichts der bedenklichen und nicht gesetzeskonformen Situation nicht ersichtlich. Seit 20 Jahren weist das Bundesgericht immer wieder auf die Defizite der LSE als Instrument der Invaliditätsbemessung hin (siehe IV.). Die jüngste Revision der IV hätte Anlass sein können, die Invaliditätsbemessung auf realitätsgerechte Grundlagen zu stellen. Stattdessen hat der Bundesrat die Sache «verschlimmbessert» und mit dem leidensbedingten Abzug ein Korrekturinstrument von – gemäss Bundesgericht – «überragender Bedeutung» abgeschafft, ohne gleichzeitig die lohnstatistischen Grundlagen besser auf die Erwerbs- und Lohnsituation gesundheitlich beeinträchtigter Personen abzustimmen.

Umso wichtiger ist, dass das Parlament nun die Initiative ergreift und die Verwaltung beauftragt, die Invaliditätsbemessung möglichst rasch auf realitätsgerechte Grundlagen zu stellen. Nur so lässt sich eine gesetzeskonforme und praktikable Invaliditätsbemessung sicherstellen. Die wissenschaftlichen Grundlagen dazu liegen vor. Was fehlt, ist die Umsetzung. Für sie gilt: «Wo ein Wille, ist ein Weg; wo er fehlt, sind viele Ausreden»24.

  • 1. Egli/Filippo/Gächter/Meier, Grundprobleme der Invaliditätsbemessung in der Invalidenversicherung, Zürich 2021.
  • 2. Meier/Egli/Filippo/Gächter, «So konkret wie möglich», SZS 2/2021, S. 55–73.
  • 3. Zum Ganzen: Egli/Filippo/Gächter/Meier, a.a.O., Rz. 11 ff.
  • 4. So bereits EVGE 1940 S. 120 ff. (Arfini gegen Suva); zur Bedeutung des Entscheids für die IV vgl. Egli/Filippo/Gächter/Meier, a.a.O., Rz. 29.
  • 5. So ZAK 1976 S. 488; vgl. jüngst BGer-Urteil 8C_256/2021 vom 9. März 2022, E. 9.1.
  • 6. BGer-Urteil 8C_256/2021 vom 9. März 2022, E. 9.1.
  • 7. Z.B. BGer-Urteil 8C_433/2020 vom 15. Oktober 2020, E. 7.2.
  • 8. Nadai/Canoncia/Koch, …und bauten draus ein grosses Haus. Interinstitutionelle Zusammenarbeit (IIZ) zur Aktivierung von Erwerbslosen. Konstanz/München 2015, S. 36.
  • 9. LSE-Tabelle TA1_tirage_skill_level; BGE 142 V 178, E. 2.5.7.
  • 10. Der Median oder Zentralwert ist die Zahl, bei der eine Hälfte der erfassten Daten niedriger, die andere höher ist.
  • 11. BGer-Urteil 8C_256/2021 vom 9. März 2022, E. 9.2.2.
  • 12. BASS-Gutachten "Nutzung Tabellenmedianlöhne LSE zur Bestimmung der Vergleichslöhne bei der IV-Rentenbemessung" vom 8. Januar 2021, S. 34 ff.
  • 13. BGer-Urteil 8C_256/2021 vom 9. März 2022, E. 9.2.1.
  • 14. BGE 129 V 472, E. 4.2.1.
  • 15. BGE 139 V 592, E. 7.4.
  • 16. BGE 142 V 178, E. 2.5.8.1.
  • 17. Ulrich Meyer, in: plädoyer 4/2021, S. 12.
  • 18. Vgl. auch Didier Froidevaux, La mesure du revenu d’invalidité: une construction subjective basée sur des statistique (ESS)?, in: Kieser (Hrsg.), Validen- und Invalideneinkommen: Ecksteine, Kriterien und Elemente, St.Gallen 2013, S. 71–83.
  • 19. BGer-Urteil 8C_256/2021 vom 9. März 2022, E. 9.2.2.
  • 20. Dazu und zum Folgenden Egli/Filippo/Gächter/Meier, a.a.O., Rz. 310.
  • 21. Egli/Filippo/Gächter/Meier, a.a.O., Rz 61.
  • 22. Im Einzelnen: Riemer-Kafka/Schwegler, Der Weg zu einem invaliditätskonformeren Tabellenlohn, SZS 6/2021, S. 287–319.
  • 23. Egli/Filippo/Gächter/Meier, a.a.O., Rz. 721 mit Hinweis auf BASS-Gutachten "Nutzung Tabellenmedianlöhne LSE zur Bestimmung der Vergleichslöhne bei der IV-Rentenbemessung" vom 8. Januar 2021.
  • 24. Aphorismus von Hans-Jürgen Quadbeck-Seeger.
iusNet AR-SVR 27.06.2022