iusNet Arbeitsrecht und Sozialversicherungsrecht

Schlulthess Logo

Arbeitsrecht und Sozialversicherungsrecht > Arbeitsrecht > Kommentierung > International > Internationales Arbeitsrecht > Zutrittsrechte Von Gewerkschaftsangehörigen im Öffentlichen Dienst Offene Frage

Zutrittsrechte von Gewerkschaftsangehörigen im öffentlichen Dienst - offene Frage geklärt

Zutrittsrechte von Gewerkschaftsangehörigen im öffentlichen Dienst - offene Frage geklärt

Kommentierung
Internationales Arbeitsrecht

Zutrittsrechte von Gewerkschaftsangehörigen im öffentlichen Dienst - offene Frage geklärt

I. Einleitung

In seinem Grundsatzentscheid hat das Bundesgericht auf eine Beschwerde des SSP/VPOD (Sindacato svizzero dei servizi pubblici/Verband des Personals öffentlicher Dienste) Zürich/Lugano hin festgehalten, dass ein generelles Zutrittsverbot für Gewerkschaften zu Verwaltungsgebäuden und das Verbot von gewerkschaftlichen Tätigkeiten in Verwaltungsgebäuden unzulässig ist. Im Wesentlichen setzte es sich mit der auf einem parlamentarischen Akt fussenden Mitteilung des Regierungsrates des Kantons Tessin auseinander, der zusammengefasst folgende Regel enthielt:

Der Zutritt zu Verwaltungsgebäuden des Kantons ist für gewerkschaftliche Aktivitäten grundsätzlich untersagt.

Treffen mit gewerkschaftlicher Zielsetzung sind mit den der Gewerkschaft angeschlossenen Staatsangestellten in den Sitzungszimmern der Verwaltungsgebäude erlaubt, sofern sie spezifische, das Arbeitsverhältnis betreffende Themen zum Inhalt haben [sinngemäss]. Sie sind grundsätzlich ausserhalb der Arbeitszeiten abzuhalten. Anfragen für solche Treffen sind im Vorfeld an die Staatskanzlei zu richten.  

Der Aushang von Merkblättern und das Verteilen von Flugblättern sowie Newsletters sind zulässig, sofern sie im Vorfeld den Informationsdiensten und dem Hausmeister des Verwaltungsgebäudes abgegeben werden. Letztere werden dafür sorgen, dass die Informationen an den dafür vorgesehenen Orten ausgestellt werden.

Der Regierungsrat hat die Vorgehensweise mit der Sicherstellung des guten Funktionierens des Verwaltungspersonals und der Gewährung der Diskretion in Bezug auf die Daten und Dokumente in den Büros begründet, ohne dadurch das Recht der Gewerkschaften verletzen zu wollen, mit ihren angeschlossenen Mitarbeitenden in Kontakt zu treten.

II. Verfassungsrechtliche Grundlagen

Die in Art. 28 BV garantierte und als Spezialfall der Vereinigungsfreiheit (Art. 23 BV) geltende Koalitionsfreiheit umfasst das Recht der Arbeitnehmer und Arbeitgeberinnen, sich zum Schutz ihrer Interessen zusammenzuschliessen, Vereinigungen zu bilden und solchen beizutreten (positive Koalitionsfreiheit). Als negative Koalitionsfreiheit wird das Recht bezeichnet, derartigen Verbänden fernzubleiben.

Es handelt sich primär um ein Abwehrrecht gegenüber dem Staat (Art. 28 Abs. 1 BV). Sie entfaltet aber auch eine indirekte Drittwirkung auf privatrechtliche Arbeitsverhältnisse1. Die Koalitionsfreiheit schützt in ihrer kollektivrechtlichen Ausprägung die Gewerkschaften in ihrem Bestand und in ihrer freien Zweckbestimmung. Sie umfasst damit die Vereinigungs-, Bestandes- und Betätigungsgarantie. Demzufolge ist es dem Staat untersagt, sich in die Organisation von Gewerkschaften einzumischen. Unter Tarifautonomie als rechtlich und faktisch wesentliches Element der Arbeitsverfassung wird das Recht der Koalitionen verstanden, Gesamtarbeitsverträge abzuschliessen, deren Inhalt direkte Wirkungen für die daran gebundenen Personen entfaltet (z.B. Art. 356 Abs. 1 OR) 2. Die Rolle der Gewerkschaften ist, bei den Verhandlungen zu Gesamtarbeitsverträgen als Interessenvertreter der Arbeitnehmer einzuwirken. Es ist Aufgabe der Gewerkschaften, für die Durchsetzung der Gesamtarbeitsverträge zu sorgen und diese zu kontrollieren. Auch deshalb ist es für Gewerkschaften von erheblichem Interesse, für ihr Bestehen und ihre Tätigkeit Werbung zu machen, Umfragen auszugestalten, ihre Mitglieder zu informieren und für ihre Ausdehnung neue Mitglieder anzuwerben3 (s.a. E. 4.1).

Art. 28 Abs. 2-4 BV halten fest, dass Streitigkeiten durch Verhandlung und Vermittlung beizulegen sind. Kampfmassnahmen wie Streik sind als ultima ratio zu verstehen und nur möglich, wenn keine Friedenspflicht im Gesamtarbeitsvertrag festgelegt wurde (Art. 28 Abs. 4 BV)4.

Damit zeigt sich, dass sich direkt aus dem Wortlaut von Art. 28 BV noch kein Zutrittsrecht von Gewerkschaften zu Betrieben ergibt, weshalb bis zum hier besprochenen Entscheid umstritten war, ob ein solches Recht verfassungsmässig verankert ist5. Möglich ist die Regelung der Zutrittsrechte im Gesamtarbeitsvertrag selbst 6. In seinem bisher einzigen Entscheid in Zusammenhang mit Zutrittsrechten hatte das Bundesgericht den Fall zu beurteilen, bei dem sich Gewerkschaftsfunktionäre vor einem Restaurant aufgestellt hatten, um die Angestellten über die Änderung des im Gastgewerbe geltenden GAV zu informieren. Nachdem sie weggewiesen worden waren und der Restaurantbetreiber via E-Mail informiert hatte, dass er den Gewerkschaftsfunktionären den Zutritt verweigerte, begaben sich diese trotzdem auf den Parkplatz des Restaurants und verteilten Informationsmaterial, was zu einem Polizeieinsatz und einer Busse wegen Hausfriedensbruchs führte 7. In diesem Urteil hatte das Bundesgericht festgehalten, dass sich weder aus den ILO-Konventionen und Art. 28 BV noch aus dem Schutz legitimer Interessen als aussergesetzlicher Rechtfertigungsgrund ein Zutrittsrecht der Gewerkschaften ableiten lässt.

Vereinzelt wird die Meinung vertreten, dass eine Verletzung der Koalitionsfreiheit vorliegen könne, wenn der Zutritt zum Betrieb verwehrt wird, da dies oft der einzige Weg ist, mit der Arbeitnehmerschaft in Verbindung zu treten8. Gleichzeitig wurde ins Feld geführt, dass es für eine Arbeitgeberin eine «unannehmbare» Zumutung wäre, im Falle eines kurz bevorstehenden oder bereits entstandenen Arbeitskampfes die Gewerkschaft als Gegnerin dieses Kampfes in ihrem Betrieb zu dulden9. Diesem Argument wird entgegengehalten, dass die Gründung von Arbeitnehmerverbänden, deren Information von Mitgliedern und die Anwerbung von neuen Mitgliedern auch nötige Vorstufen zu einem allfälligen Streik sind. Der Staat dürfe der Arbeitgeberin nicht erlauben, den Arbeitskampf bereits vor dem Entstehen zu verbieten10. Teilweise wurde mindestens für den Bereich des Gesundheitsschutzes aus ArG mit dem damit verbundenen Recht auf Zutrittsrechte der Vollzugsorgane und Arbeitsinspektoren in Art. 45 Abs. 2 ArG zur Sicherstellung der gewährten arbeitnehmerseitigen Mitwirkung mittels Fachkunde der Gewerkschaftsangehörigen ein Zutrittsrecht begründet11.

III. Schwerpunkte im Urteil

Das Bundesgericht weist zu Recht darauf hin, dass entgegen dem vorzitierten Urteil (BGer 6B_758/2011 vom 24. September 2012) vorliegend der Zutritt zu staatlichen Gebäuden und nicht zu einem privaten Grundstück zur Diskussion steht (E. 5.3).

Neben den dargestellten verfassungsmässigen Grundlagen erfolgt eine eingehende Analyse von arbeitsvölkerrechtlichen Normen. So verweist das Bundesgericht auf die in Art. 11 EMRK verankerte Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Die genannte Norm erwähnt ausdrücklich das Recht, an der Gründung von Gewerkschaften mitzuwirken und sich Gewerkschaften anzuschliessen, um die eigenen Interessen wahrzunehmen. Zudem nimmt es Bezug auf Art. 22 UNO Pakt II, Art. 8 UNO Pakt I sowie auf die ILO-Übereinkommen 87 über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz der Vereinigungsfreiheit und ILO-Übereinkommen 98 über die Anwendung der Grundsätze des Vereinigungsrechtes und des Rechtes zu Kollektivverhandlungen. Es ist anzumerken, dass die letztgenannten Normen der ILO als Kernbereiche des internationalen Arbeitsrechts gelten12. Nach Auslegung von ILO-Übereinkommen 87 durch den Sachverständigenausschuss räumt die Vereinigungsfreiheit den Gewerkschaften auch einige «diritti derivati» ein, was die Möglichkeit sich frei zu betätigen und insbesondere auch das Recht auf Zugang zu den Arbeitsplätzen mitumfasst13. Das Bundesgericht übernimmt diese Auslegung und die diesbezüglichen schweizerischen Lehrmeinungen14. Es greift die Streitfrage auf, ob die von der Schweiz ratifizierten ILO-Übereinkommen unmittelbar anwendbar sind (E. 5.3.3.1), und hält m.E. zu Recht unmissverständlich fest, dass vorliegendenfalls auf diese Frage gar nicht einzugehen ist, da das Bundesgericht aus eigenem Antrieb und unabhängig von ihrer Bindungswirkung auf arbeitsvölkerrechtliche Normen Bezug nehmen kann, um Art. 28 BV zu konkretisieren. Bemerkenswert ist auch die Aussage des Bundesgerichts, dass sich zahlreiche Normen der ILO zum Schutz von Gewerkschaftsrechten inhaltlich mit anderen, von der bundesgerichtlichen Rechtsprechung selbst als self-executing bezeichneten völkerrechtlichen Bestimmungen überschneiden (z.B. Art. 11 EMRK, Art. 22 UNO Pakt II), die in ihrem Wortlaut teilweise viel weniger präzise sind als die massgebenden Übereinkommen der ILO. Ebenso bemerkenswert ist, dass das Bundesgericht auch auf die dogmatisch sehr interessante Tatsache hinweist, dass sich der EGMR bei seiner Auslegung von Art. 11 EMRK auf die Praxis des Ausschusses für Gewerkschaftsfreiheit und die Empfehlungen des Committee of Experts on the Application of Conventions and Recommendations (CEACR) der ILO (E. 5.3.3.1) stützt. Für die aus Art. 3 von ILO-Übereinkommen 87 abgeleiteten Unterlassungspflichten des Staates hält das Bundesgericht fest, dass sich bereits aus BGE 129 I 113 deren self-executing Charakter ergibt. Es verstärkt diese Einschätzung unter Verweis auf ILO-Übereinkommen 151 betreffend Angestellte des öffentlichen Dienstes, welches den Verbänden der öffentlich-rechtlichen Angestellten eine absolute Unabhängigkeit gegenüber dem Arbeitgeber Staat einräumt (E. 5.3.3.2).

Auch wenn ein gänzliches Verbot des Zutritts von Gewerkschaftsangehörigen aus Sicht des Bundesgerichts unzulässig ist, weist es ergänzend darauf hin, dass die Modalitäten mit der Arbeitgeberin abzusprechen sind und er den Zutritt von Bedingungen abhängig machen kann (E. 6.1, E. 6.2.2). Dies steht m.E. in keinerlei Widerspruch mit dem Arbeitsvölkerrecht.

Bei der Verwendung von Verwaltungsgebäuden ist der Staat nicht nur an seine Arbeitgeberpflichten, sondern auch an die Grundrechte und damit an Art. 35 Abs. 2 BV gebunden (E. 6.3). Der unter anderem auch gestützt auf Verhältnismässigkeitsüberlegungen gezogene Schluss, wonach die inhaltliche Einschränkung auf gewerkschaftliche und arbeitsvertragliche Themen sowie ausschliessliche Treffen mit angeschlossenen Mitgliedern zu weit geht (E. 6.4 ff.), entspricht m.E. ebenfalls den arbeitsvölkerrechtlichen Vorgaben.

Festzuhalten bleibt, dass das Bundesgericht ausdrücklich offen lässt, ob dieselben Überlegungen auch gelten, wenn es sich um eine Arbeitgeberin des Privatrechts handelt (E. 5.3, E. 5.4 erster Satz).

 

  • 1. BGE 132 III 122, E. 4.4.1
  • 2. BGE 121 III 168, E. 3; zur Allgemeinverbindlichkeit von Gesamtarbeitsverträgen siehe Art. 110 Abs. 2 BV
  • 3. Marcel Alexander Niggli/Stefan Maeder, Hausverbote und gewerkschaftliche Tätigkeit, AJP 11 (2014) 1463 ff., S. 1471 f.
  • 4. BGE 125 III 277, E. 3a.
  • 5. Arthur Andermatt u.a., Handbuch zum kollektiven Arbeitsrecht, Basel 2009, § A N 37 f.
  • 6. Kurt Pärli, Betriebliche Zutrittsrechte der Gewerkschaften aus Arbeitsrecht und Gesamtarbeitsvertrag, AJP 11 (2014)
    1454 ff., S.
    1460.
  • 7. BGer 6B_758/2011 vom 24. September 2012; siehe dazu: Marcel Alexander Niggli , Gutachten betreffend Hausverbote und gewerkschaftliche Tätigkeit, Freiburg, April 2014
  • 8. BSK-Schiess Rütimann, N 19 zu Art. 28 BV
  • 9. Ullin Streiff/Adrian von Kaenel/Roger Rudolph, Arbeitsvertrag, Praxiskommentar zu Art. 319 – 362 OR, 7. Aufl., Zürich 2012., N 7 u Art. 357a OR
  • 10. Pärli, S. 1460.
  • 11. Andermatt u.a. § E. N 6 ff.; Pärli, S. 1457; Überlegung zur möglichen Ableitung von Zutrittsrechten aus Art. 11. Abs. 2 MitwG
  • 12. Demir Eylem, Die internationale Dimension des Arbeitsrechts, Völkerrechtliche und europarechtliche Einflüsse auf das schweizerische Arbeitsrecht, Zürich/St. Gallen 2017, N 282; Demir Eylem, Kollektive Rechte, N 1948ff., insbes. N 2004
  • 13. Beatriz Vacotto, Droit d'accès des représentants syndicaux aux lieux de travail: un élément fondamental de la liberté syndicale, in: AJP/PJA 2014, S. 1435
  • 14. Andermatt Arthur, Die Gewerkschaften dürfen in die Betriebe, in: Plädoyer 2004/5, S. 45; ders., Liberté syndicale et droit de grève, in: Droit collectif du travail, 2010, S. 21; Christine Kaufmann/Christoph Good, Die Anwendbarkeit von ILO-Recht vor Schweizer Gerichten: Potential und Grenzen,: Rechtsgutachten im Auftrag des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), in: AJP/PJA 5/2016, S. 647ff.; Nicolas Valticos, Les effets des Conventions internationales du travail en Suisse, in: Mélanges offerts à la SSJ, 1976, S. 327ff.; Pärli,  S. 1454 ; Beatriz Vacotto, Droit d'accès des représentants syndicaux aux lieux de travail: un élément fondamental de la liberté syndicale, in: AJP/PJA 2014, S. 1433ff; Jean-Bernard Waeber, Droit de grève: exercice soumis à conditions, in: Plaidoyer 2006/6, S. 69
iusNet AR-SVR 24.04.2018