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Defizite im ArG-Vollzug werden in Zeiten von Corona offensichtlich

Defizite im ArG-Vollzug werden in Zeiten von Corona offensichtlich

Kommentierung
Arbeitsschutzrecht

Defizite im ArG-Vollzug werden in Zeiten von Corona offensichtlich

1. Covid-19-Massnahmen für Baustellen und Industrie

Der Bundesrat hat die Verordnung 2 über Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus (COVID-19-Verordnung 2, SR 818.101.24) am 20. März 2020 ergänzt mit u.a. einem Artikel 7d zu Präventionsmassnahmen auf Baustellen und in der Industrie. 

Absatz 1 verpflichtet die Arbeitgeber im Bauhaupt- und -nebengewerbe und in der Industrie, die Empfehlungen des BAG betreffend Hygiene und sozialer Distanz einzuhalten. Hierzu sind namentlich die Anzahl der anwesenden Personen auf Baustellen oder in Betrieben entsprechend zu limitieren, die Baustellen- und Betriebsorganisation anzupassen und Menschenansammlungen von mehr als fünf Personen in Pausenräumen und Kantinen zu verhindern.

Die Absätze 2 und 3 verweisen darauf, dass der Vollzug dieser Bestimmung den Vollzugsbehörden des Arbeitsgesetzes und des Unfallversicherungsgesetzes obliegt und die zuständigen kantonalen Behörden einzelne Betriebe oder Baustellen schliessen können, falls die Pflichten nach Absatz 1 nicht eingehalten werden.

2. Verantwortung für die Umsetzung des Arbeitsgesetzes

Art. 6 ArG verpflichtet auch ausserhalb einer Pandemie sämtliche Arbeitgebenden, alle Massnahmen zum Schutze der Gesundheit ihrer Arbeitnehmenden zu treffen, die nach der Erfahrung notwendig, nach dem Stand der Technik anwendbar und den Verhältnissen des Betriebes angemessen sind. Art. 7d Covid-19 VO2 konkretisiert nun für einzelne Wirtschaftszweige diese allgemein geltende Pflicht in Bezug auf die spezifischen Massnahmen zum Schutz vor Übertragung des Coronavirus.

Für den Vollzug des Arbeitsgesetzes sind gemäss Art. 41 ArG die Kantone zuständig. Der Bund übt durch das SECO die Oberaufsicht über die kantonalen Vollzugsbehörden aus und kann ihnen Weisungen erteilen. Er ist selber für den Vollzug in den bundeseigenen Betrieben zuständig (Art. 42 Abs. 1 und 2 ArG). Die Verordnung 1 zum ArG umschreibt in Art. 79 Abs. 1 die Vollzugs-Aufgaben der Kantone mit Kontrolle (lit. a), Beratung (lit. b) und Information aller relevanten Akteure (lit. c). Zum Vollzug gehört es aber auch, Fehlbare zu sanktionieren (Art. 50 ff. ArG), was bis zu einer Betriebsschliessung und Verwaltungsstrafen gehen kann (Art. 59 ff. ArG). 

Die Kantone haben dafür kantonale Arbeitsinspektorate eingerichtet, welche in den meisten Kantonen im Amt für Wirtschaft und Arbeit bzw. im Volkswirtschaftsdepartement eingegliedert sind. Die Kosten für die Finanzierung der Vollzugsaufgaben der Arbeitsinspektorate werden von den Kantonen bzw. letztlich von den Steuerzahlenden getragen, soweit nicht Gebühren in förmlichen Verwaltungsverfahren erhoben werden können. Die kantonalen Arbeitsinspektorate behandeln jährlich über 13'000 Arbeitszeitbewilligungen (SECO, Bericht über die Arbeitsinspektion 2018, S. 8), so dass nur noch wenig personelle Ressourcen zur Verfügung stehen für den Vollzug der Vorschriften über den Gesundheitsschutz. Zudem gibt es grosse Unterschiede unter den Kantonen bei der Ausstattung der Arbeitsinspektorate (Steiger-Sackmann Sabine, Guery Schindler Michael, Zusammenspiel der Verfahren vor kantonalen Arbeits-inspektoraten und vor Arbeitsgerichten bei psychosozialen Belastungen – kantonale Unterschiede, in ARV 2018(3), S. 191).

Neben dem Vollzug des Arbeitsgesetzes, sind die Arbeitsinspektorate im Gewerbe und in Dienstleistungsbetrieben überdies zuständig für die Verhütung von Berufsunfällen (Art. 47 VUV). D.h. in 340’000 der rund 530’000 Unternehmen in der Schweiz kontrollieren die kantonalen Arbeitsinspektorate (und nicht die Suva) die Unfallprävention nach UVG (EKAS Jahresbericht 2018, S. 42). Dafür erhalten die Kantone aufwandabhängige Beiträge (Art. 91 VUV). Dies dürfte zu einer Priorisierung der UVG-Vollzugsaufgaben zu Lasten des Vollzugs der Gesundheitsschutzbestimmungen des ArG führen, um die Budgets der Kantone zu entlasten.

Die Kantone sind aber verpflichtet dafür sorgen, dass «gut ausgebildete Aufsichtspersonen in einer für die Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben genügenden Zahl eingesetzt werden» (Art. 79 Abs. 2 ArGV1). Laut Art. 79 Abs. 3 ArGV1 hätte das SECO die Kompetenz, Richtlinien hinsichtlich «der Anzahl der zu beschäftigenden Aufsichtspersonen pro Kanton in Abhängigkeit der Anzahl Betriebe und der zu erfüllenden gesetzlichen Aufgaben sowie ihrer Komplexität» zu erlassen. Diese Kompetenz hat das SECO aber bislang nicht ausgeschöpft, was schon verschiedentlich angemahnt wurde (darauf wurde bereits hingewiesen in: Steiger-Sackmann, Guery Schindler, S. 191 (s.o.); Steiger-Sackmann, Sabine, Burnout als Berufskrankheit, in: Neue Zürcher Zeitung vom 21.5.2019, S. 9). Dieses Versäumnis führt nun heute dazu, dass die Kantone in ihren Arbeitsinspektoraten nicht über die personellen Ressourcen verfügen, um die Corona-Massnahmen in genügendem Umfang kontrollieren zu können. 

3. Die Rolle der Suva

Eine besondere Schwierigkeit im schweizerischen Recht besteht darin, dass der Schutz vor Unfallgefahren und Berufskrankheiten im Unfallversicherungsgesetz UVG geregelt ist, während die Arbeitsschutznormen hinsichtlich der übrigen physischen und psychischen Gefahren im Arbeitsgesetz ArG zu finden sind. Deswegen wird der Vollzug dieser Bestimmungen durch unterschiedliche Behörden kontrolliert und gegebenenfalls sanktioniert.

Für die Überwachung der Vorschriften über die Verhütung von Berufskrankheiten ist die Suva in allen Wirtschaftszweigen ausschliesslich zuständig (Art. 50 VUV). Die Kontrolle der Unfallverhütung wird durch die Suva in Betrieben mit spezifischen Betriebsgefahren und den obligatorisch bei ihr versicherten Betrieben wahrgenommen, während die Unternehmen ausserhalb dieses Zuständigkeitsbereichs (d.h. Gewerbe und Dienstleistungsbetriebe) gemäss Art. 47 VUV durch die kantonalen Arbeitsinspektorate beaufsichtigt werden (s.o. 2.). Die Kosten für den Vollzug der Vorschriften des UVG tragen die Arbeitgebenden, indem von ihnen ein Präventionszuschlag auf die Berufsunfall-Prämie erhoben wird (Art. 87 UVG). Damit stehen jährlich ca. 110 Mio. Franken zur Verfügung, wovon ca. 90 Mio. zur Deckung des Vollzugsaufwandes eingesetzt werden (Suva, Geschäftsbericht 2018, S. 42 und 63).

Im Bauhaupt- und -nebengewerbe und in der Industrie ist die Suva laut dieser gesetzlichen Zuständigkeitsordnung nur für die Kontrolle der Vorschriften zur Verhütung von Unfällen und Berufskrankheiten zuständig. Eine Ansteckung mit dem SARS-CoV-2-Virus würde bei Arbeitnehmenden dieser Brachen aber nicht als Berufskrankheit anerkannt (Gemäss Anhang 1 zur UVV sind Infektionskrankheiten nur bei «Arbeiten in Spitälern, Laboratorien, Versuchsanstalten und dergleichen» Berufskrankheiten ). Somit hat die Suva eigentlich keine Kompetenz, Hygiene-Empfehlungen und Abstandsregeln des BAG zu überwachen. Dennoch wird sie vom Bundesrat in der Covid2-VO verkappt als «Vollzugsbehörde des Bundesgesetzes über die Unfallversicherung» als zuständig erklärt. Und auf der Website der Suva ist zu lesen: «Er (der Bundesrat) hat die Suva damit beauftragt, die Umsetzung dieser Empfehlungen auf Baustellen zu kontrollieren. Den Vollzug der Massnahmen ist den Kantonen zugewiesen worden. Beratungen bieten wir über unsere Hotlines allen Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden an».

Der Suva obliegt im Bauhaupt- und -nebengewerbe und in der Industrie nun vorübergehend (gesetzeswidrig) Kontrolle und Beratung bezüglich der BAG-Empfehlungen – dafür soll die Suva mit «28 Fachleuten» im Einsatz sein laut NZZ vom 11.4.2020, S. 12 – , die Sanktionen werden aber (gesetzeskonform) von den kantonalen Arbeitsinspektoraten erlassen. Der «Vollzug» wird mit dieser temporären Verordnungsbestimmung unüblicherweise gesplittet in Kontrolle und Beratung einerseits und Sanktionierung andererseits.

4. Defizite in den Kantonen und Versäumnisse vom SECO 

Der Zweck mag die Mittel heiligen, indem der Bundesrat die Suva vorübergehend für Vollzugsaufgaben der kantonalen Arbeitsinspektorate «einspannt». Aber neben den rechtsstaatlichen Bedenken ist unübersehbar, dass die Kantone in der Vergangenheit ihre Pflicht, «Aufsichtspersonen in einer für die Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben genügenden Zahl» bereitzustellen, nicht nachgekommen sind. Das SECO hat - wie sich nun offenbart hat - seine Aufgabe als Aufsichtsbehörde ebenfalls ungenügend wahrgenommen und es bislang unterlassen, den Kantonen entsprechende Weisungen zu erteilen, obwohl es die Kompetenz und die Pflicht dazu gehabt hätte.

In den letzten zwei Jahrzehnten gab es mehrere erfolglose Reformversuche, um die systembedingten Mängel beim Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz zu beheben (EKAS Jahresbericht 2018, S. 24). Die psychosozialen Risiken haben in der heutigen Arbeitswelt gegenüber den Unfallgefahren zugenommen. Daher lassen sich die Unterschiede bei der Zuständigkeit für Unfall-, Berufskrankheiten- und sonstiger Prävention sowie der Finanzierung je länger je weniger rechtfertigen. Bislang fehlte aber der nötige politische Gestaltungswille, so dass sich der Graben zwischen den bestehenden Strukturen und dem Präventionsbedarf noch weiter vertieft hat (Richoz Pascal, Gesundheit am Arbeitsplatz: Eine Reform ist nicht absehbar, in: Die Volkswirtschaft 6/2017, S. 59).

Das durch dieses Wegschauen entstandene Vakuum versuchen nun mehrere Kantone (AG, BL, JU, VD) mit einer «tripartiten Gesamtsteuerung» des ArG-Vollzuges zu beheben, indem sie die Kontrolle an die Paritätische Berufskommission Bau oder analoge Kontrollvereine delegieren (wie sich dies auch bei den flankierenden Massnahmen gesamtschweizerisch bewährt hat). In weiteren Kantonen (GE, NE) sind die Kontrolleure der paritätischen Kommissionen ohne spezifischen Auftrag unterwegs und melden der Suva oder dem Kanton Verstösse (Angaben gem. Auskunft der Gewerkschaft Unia).

Es ist beschämend, dass der Schutz der Arbeitnehmenden dann, wenn sie ihn am nötigsten hätten, von den eigentlich zuständigen Behörden nicht gewährleistet werden kann. Es ist nun unübersehbar, dass der Gesundheitsschutz seit Jahren vernachlässigt worden ist. Arbeitnehmende brauchen aber auch in «normalen» Zeiten kompetente Ansprechpersonen in genügender Zahl, die sich darum kümmern, dass Gesundheitsrisiken an den Arbeitsplätzen reduziert werden. Dies ist nicht nur bei plötzlich auftretenden Gesundheitsgefahren nötig, sondern genauso bei den sich langsam kumulierenden Belastungen durch lange Arbeitszeiten, schlechte Arbeitshaltung, Lärm sowie hohe Arbeitsdichte, Termindruck, Konflikte und sonstige schwerer erkennbare psychosoziale Belastungen. Die chronisch unterbesetzten Arbeitsinspektorate blockieren den Vollzug des Arbeitsgesetzes und gefährden die Gesundheit der Arbeitnehmenden. Dies hat Kosten von mehreren Millionen jährlich zur Folge (Richoz (FN 10), S. 59; Gesundheitsförderung Schweiz, Job Stress Index 2018).

5. Lösungen für die Zukunft?

Es bleibt nur zu hoffen, dass den Vollzugs-Problemen spätestens nach Aufhebung der Covid-19-Massnahmen endlich die nötige Beachtung geschenkt wird. Das SECO muss klare Vorgaben machen, wie viel Personal es pro Betrieb bzw. Arbeitnehmende in den kantonalen Arbeitsinspektoraten braucht, oder es muss eine Mindestkotroll-Quote vorgeben. Es braucht zudem zeitgemässe Instrumente für die Überwachung des Gesundheitsschutzes, wie z.B. anonyme Online-Umfragen. Der komplizierte Dualismus (UVG/ArG) im Vollzug muss endlich überwunden und dem Standard anderer Länder angepasst werden, indem eine einzige, neu zu schaffende Behörde wie z.B. die EKAS dafür zuständig wird, den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz integral und unter Einbezug der Sozialpartner zu überwachen. 

Es muss aber auch eine tragfähigere und sachgerechte Finanzierung des ArG-Gesundheitsschutzes gefunden werden. Sie darf nicht weiterhin den kantonalen Behörden überlassen werden, weil sich nun gezeigt hat, dass sie dem Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz nicht das nötige Gewicht geben. Vielmehr ist für den ArG-Vollzug eine Finanzierung analog zum UVG-Vollzug zu etablieren. Würde man nämlich einen Präventionszuschlag z.B. auf den Arbeitgeber-Beiträgen an die Invalidenversicherung erheben, wäre dies nicht sachfremd, denn wirksamer Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz verhindert Erwerbsunfähigkeiten und entlastet damit die Sozialwerke. Und nicht zuletzt braucht eine florierende Wirtschaft gesunde Arbeitskräfte, was durch die Coronapandemie hoffentlich wieder einmal in Erinnerung gerufen wurde.

iusNet AR-SVR 24.04.2020