Die Vielschichtigkeit der Arbeitsbedingungen in der Pflege
Die Vielschichtigkeit der Arbeitsbedingungen in der Pflege
Die Vielschichtigkeit der Arbeitsbedingungen in der Pflege
Ein Kommentar zu BVGer Urteil C-7017/2015 vom 17. September 2021
I. Einführung
Am 6. September 2021 ist der neue Versorgungsbericht über das Gesundheitspersonal in der Schweiz erschienen.1 Die Ausbildungsabschlüsse konnten auf allen Qualifikationsstufen deutlich gesteigert werden, was im Hinblick auf den chronischen Fachkräftemangel in der Pflege erfreulich ist. Allerdings besteht weiterhin ein grosser Handlungsbedarf: Die Arbeitsbedingungen sollen verbessert werden, damit die Pflegefachkräfte länger in ihrem Beruf verweilen und der Beruf für den Nachwuchs an Attraktivität gewinnt.2 Die Hoffnung ruht dabei auch ein wenig auf der «Pflegeinitiative»3, über die am 28. November 2021 abgestimmt wird.
II. Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Pflege
Der Versorgungsbericht versteht unter Arbeitsbedingungen folgende Elemente:4
- Identifikation mit Betrieb sowie Wertschätzung und Unterstützung durch direkte Vorgesetzte
- Arbeitsorganisation, Arbeitsbelastung, Sinnhaftigkeit konkreter Arbeit
- Betrieblicher Umgang mit physischen und emotionalen Belastungen der Mitarbeitenden
- Betriebskultur im Umgang mit Klientinnen und Klienten und mit den Mitarbeitenden sowie Teamkultur
- Vereinbarkeit von Arbeit, Familie und Freizeit
- Möglichkeiten zur Personalentwicklung
- Anstellungsbedingungen wie Lohn, Ferien- oder Urlaubsregelungen
a. Bundeskompetenz im Arbeitsschutz
Der Bund darf gestützt auf Art. 110 Abs. 1 Bst. a BV umfassend und das kantonale Recht verdrängend Vorschriften über den Schutz der Arbeitnehmenden erlassen. Geht es um den Arbeitsschutz, gibt es praktisch keinen Bereich, in dem der Bund nicht legiferieren dürfte.5 Aber nicht alle im Versorgungsbericht aufgelisteten Elemente können Bestandteil einer Arbeitsschutznorm sein, weil z.B. eine Pflicht für vorgesetzte Personen, die Arbeit von Teammitgliedern wertzuschätzen, zu stark in ihre Persönlichkeitsrechte eingreifen würde.6 Bei einer Annahme der Pflegeinitiative müsste der Bund im Rahmen seiner Zuständigkeiten immerhin Ausführungsbestimmungen über «anforderungsgerechte Arbeitsbedingungen für die in der Pflege tätigen Personen» erlassen (nArt. 197 Ziff. 12 Abs. 1 Bst. c BV).7
b. Gegenstände des Arbeitsgesetzes
Im wichtigsten, aus Art. 110 Abs. 1 Bst. a BV hervorgegangen Gesetz, dem Arbeitsgesetz, sind die Vorgaben zu den Arbeits- und Ruhezeiten sowie dem physischen und psychischen Gesundheitsschutz geregelt, wobei diese Vorgaben in den Verordnungen zum ArG konkretisiert sind. Von den Arbeits- und Ruhezeitvorschriften ausgenommen sind die öffentlichen Verwaltungen.8 Dasselbe gilt für Betriebe der Krankenpflege, sofern es Anstalten ohne Rechtspersönlichkeiten sind oder sie die Mehrzahl ihrer Belegschaft öffentlichrechtlich angestellt haben.9 Die Arbeits- und Ruhezeiten in den öffentlichen Verwaltungen müssen aber mindestens so günstig sein wie jene des Arbeitsgesetzes.10 Damit kann der Bund über das Arbeitsgesetz indirekt auch die Bedingungen des öffentlichen Personalrechts in den Kantonen beeinflussen. Der Bundesrat darf nun in der Verordnung 2 zum Arbeitsgesetz bzgl. Arbeits- und Ruhezeiten Sonderbestimmungen für die Betriebe der Krankenpflege erlassen, soweit es mit Rücksicht auf besondere Verhältnisse notwendig ist.11 Gestützt auf Art. 26 ArG könnte die wöchentliche Höchstarbeitszeit auch verkürzt werden.
Im Hinblick auf die älter werdenden Babyboomer fordern der ehemalige SVP-Nationalrat Rudolf Joder und Staatsrechtsprofessor Andreas Kley eine «nures-to-patient-ratio».12 Wichtig erscheint mir, die nurse-to-patient-ratio mit Vorgaben zum «Skill-Grade-Mix» zu verbinden, da ansonsten die nurse-to-patient-ratio mit Pflegekräften ohne erforderliche Fachausbildung erfüllt wird, was für die betroffenen Arbeitnehmenden infolge fachlicher Überforderung wiederum zu einer Über(be)lastung führen würde.13 M.E. weist der Versorgungsbericht die Notwendigkeit für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Grundsatz aus. Der Teufel steckt aber bekanntlich im Detail. Der Bundesrat könnte in den Verordnungen zum Arbeitsgesetz günstigere Arbeitsbedingungen hinsichtlich Arbeits- und Ruhezeit schaffen,14 aber den Betrieben der Krankenpflege auch konkrete Massnahmen zum Schutz der Gesundheit der Pflegefachkräfte vorschreiben, wie bspw. eine nurse-to-patient-ratio sowie einen Skill-Grade-Mix.15
c. Bundeskompetenz im Zivilrecht
Auf die privatrechtlichen Arbeitsverhältnisse könnte der Bundesgesetzgeber über das OR oder über die Erneuerung des Normalarbeitsvertrages für das Pflegepersonal vom 23. Dezember 1971 Einfluss nehmen. Die Gesetzgebungskompetenz auf dem Gebiet des Zivilrechts stützt sich auf Art. 122 Abs. 1 BV. Die Modalitäten des Normalarbeitsvertrages sind in Art. 359 ff. OR geregelt. Ob die Erneuerung des Normalarbeitsvertrages für das Pflegepersonal die Arbeitsbedingungen in der Praxis zu verbessern vermag, ist zweifelhaft, weil von Normalarbeitsverträgen auch zuungunsten der Arbeitnehmenden abgewichen werden dürfte.16 Nur wenn innerhalb einer Branche oder einem Beruf die orts‑, berufs- oder branchenüblichen Löhne wiederholt in missbräuchlicher Weise unterboten werden und kein Gesamtarbeitsvertrag mit Bestimmungen über Mindestlöhne vorliegt, der allgemein verbindlich erklärt werden kann, könnten (befristete) Mindestlöhne vorgesehen werden, von denen nicht zu Ungunsten der Arbeitnehmenden abgewichen werden darf.17
d. Kompetenzen in der Gesundheitsversorgung
Grundsätzlich sind die Kantone für das Gesundheitswesen zuständig.18 Der Bund reguliert indessen die Belange der Krankenversicherung.19 Relevant in diesem Kontext sind die Vorgaben, die Leistungserbringer erfüllen müssen, damit sie nach KVG abrechnen dürfen.20 Spitäler und sinngemäss andere Betriebe der Krankenpflege müssen über das erforderliche Fachpersonal verfügen.21 Der Bundesrat erlässt dafür u.a. einheitliche Planungskriterien auf der Grundlage von Qualität und Wirtschaftlichkeit.22 Art. 58b Abs. 4 Bst. a KVV gibt dazu vor, dass Wirtschaftlichkeit und Qualität der Leistungserbringung bei der Beurteilung und der Auswahl des Angebots zu berücksichtigen sind.
In einem am 17. September 2021 ergangenen Urteil23 musste das Bundesverwaltungsgericht darüber entscheiden, ob der Kanton Neuenburg einen Leistungserbringer dazu verpflichten darf, die Arbeitsbedingungen eines GAV einzuhalten. Im Grundsatz wurde die Kompetenz zur Einflussnahme auf die Arbeitsbedingungen im Rahmen von Art. 39 KVG bejaht.24 Weil aber nicht jede Arbeitsbedingung geeignet ist, die Qualität und/oder die Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringer zu steigern, sei es notwendig, die angemessenen Arbeitsbedingungen klar zu definieren. Nur so sei eine Beurteilung und eine Entscheidung im Hinblick auf das Versorgungsangebot überhaupt möglich. Es seien Mindestanforderungen festzulegen und zu erläutern, wie diese die Qualität und die Wirtschaftlichkeit positiv beeinflussen würden.25
III. Schlussbetrachtung
Interessant erscheint mir zudem, dass das Bundesverwaltungsgericht dafürhält, dass die Anwendung angemessener Arbeitsbedingungen – und insbesondere eines fairen Lohnniveaus – auf sämtliche Leistungserbringer die Grundlagen für Vergleich und Bewertung der Kostenwirksamkeit verbessern.26 Die Kantone dürfen also mit der Verfolgung gewisser (Haupt-)Zwecke27 die Arbeits- und eben auch die Lohnbedingungen insbesondere im Gesundheitswesen bestimmen, obwohl der Arbeitsschutz für privatrechtliche direkt oder für öffentlichrechtliche Arbeitsverhältnisse indirekt (mit Ausnahme der Vorbehalte in Art. 71 Bst. b und c ArG abschliessend) und das private Arbeitsrecht (abschliessend) in der Regulierungskompetenz des Bundes sind. Daran ist die Vielschichtigkeit der Arbeitsbedingungen in der Pflege zu erkennen. Die Arbeitsbedingungen sind Bestandteil der altehrwürdige Bundeskompetenz im Arbeitsschutz. Diese Bundeskompetenz schliesst aber eine kantonale Regulierung der Arbeitsbedingungen im Rahmen ihrer klassischen Aufgaben nicht aus.
- 1. https://www.gdk-cds.ch/fileadmin/docs/public/gdk/themen/gesundheitsberuf....
- 2. Merçay Clémence/Grünig Annette/Dolder Peter, Gesundheitspersonal in der Schweiz – Nationaler Versorgungsbericht 2021. Bestand, Bedarf, Angebot und Massnahmen zur Personalsicherung (Obsan Bericht 03/2021), Neuchâtel 2021, S. 102 ff.
- 3. Gesch.‐Nr. 18.079.
- 4. Merçay/Grünig/Dolder, a.a.O., S. 92.
- 5. Gächter Thomas, Kommentierung von Art. 110 BV, in: Ehrenzeller Bernhard u.a. (Hrsg.), St.Galler Kommentar, Die schweizerische Bundesverfassung, 3. Auflage, Zürich 2014, Art. 110 BV N 22.
- 6. Siehe die Lehre zum Arbeitszeugnis bei Fischer Stephan, Arbeitszeugnis – Beurteilung und Durchsetzung. Handbuch für die Praxis, Bern 2016, S. 40 f., die im Arbeitsrecht allgemeine Geltung beanspruchen kann.
- 7. BBl 2021 1488, S. 2.
- 8. Art. 2 Abs. 1 Bst. a ArG.
- 9. Art. 2 Abs. 2 i.V.m. Art. 7 Abs. 1 ArGV 1.
- 10. Art. 71 Bst. b ArG.
- 11. Art. 27 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Bst. a ArG.
- 12. Hehli Simon, Mit einer Quote gegen den Pflegenotstand, in: NZZ vom 6. Oktober 2021, S. 7.
- 13. Mit Vorgaben zur nurse-to-patient-ratio und zum Skill-Grade-Mix kann die Arbeitsbelastung der Pflegefachkräfte kontrolliert werden. Studien belegen, dass eine gesetzlich festgeschriebene nurse-to-patient ratio eine Rückkehr von Pflegefachpersonen in den Beruf stark fördert, die Pflegequalität steigert und zugleich die Burnout-Rate des Personals senkt (Leoni-Scheiber Claudia/Müller Staub Maria, «Nurse-to-patient ratio» und Skill- und Grade-Mix: Folgen des Pflegefachperson/Patienten-Verhältnisses und der Personalzusammensetzung, in: Pflegerecht 4/2018, S. 234–242, S. 240).
- 14. Art. 26 und 27 ArG.
- 15. Art. 6 Abs. 4 ArG.
- 16. Art. 360 OR.
- 17. Art. 360a i.V.m. 360d Abs. 2 OR.
- 18. Art. 3 BV.
- 19. Art. 117 BV.
- 20. Art. 35 ff. KVG.
- 21. Art. 39 Abs. 1 Bst. b KVG.
- 22. Art. 39 Abs. 2ter KVG.
- 23. BVGer C‐7017/2015 vom 17. September 2021.
- 24. BVGer C‐7017/2015 vom 17. September 2021, E. 10.6.
- 25. BVGer Urteil C-7017/2015 vom 17. September 2021, E. 10.7.
- 26. BVGer Urteil C-7017/2015 vom 17. September 2021, E. 10.6.2.
- 27. Das ist jener der qualitativ hochstehenden und wirtschaftlich effizienten Gesundheitsversorgung und der sozialpolitische (BGE 143 I 403).