iusNet Arbeitsrecht und Sozialversicherungsrecht

Schlulthess Logo

Arbeitsrecht und Sozialversicherungsrecht > Arbeitsrecht Sozialversicherungsrecht > Kommentierung > Arbeitslosenversicherung > Arbeitgeberkündigung Nach Kurzarbeit

Arbeitgeberkündigung nach Kurzarbeit

Arbeitgeberkündigung nach Kurzarbeit

Kommentierung
Arbeitslosenversicherung

I. Einführung

Im Zusammenhang mit den Finanzhilfen aufgrund der Corona-Massnahmen stellte sich in jüngerer Zeit wiederholt die Frage, ob der Arbeitgeber den Lohn rückwirkend von 80% auf 100% aufzahlen müsse, wenn er den Mitarbeitenden nach dem Bezug von Kurzarbeitsentschädigung entlässt.

Die arbeitsrechtliche Ansicht, dass der Arbeitgeber den Lohn rückwirkend von 80% auf 100% aufzahlen muss, wenn er den Arbeitnehmenden nach der Kurzarbeit entlässt, gefährdet das sozialversicherungsrechtliche Institut der Kurzarbeitsentschädigung. Der vorliegende Beitrag zeigt auf, weshalb die Kurzarbeit auch ohne Aufzahlung bei einer anschliessenden Entlassung im Interesse der Mitarbeitenden liegt und nicht unbedacht angegriffen werden sollte.

II. Arbeitsgericht Bern, Urteil vom 3. Mai 1993 (JAR 1994 125)

In der Literatur wird hinsichtlich der Aufzahlungsfrage u.a. auf einen Entscheid des Berner Arbeitsgerichts, publiziert in JAR 1994, S. 125, verwiesen1, welcher gemäss Regeste nach Massgabe von Art. 324 Abs. 1 OR ebendieses zu bestätigen scheint: «Die stillschweigende Zustimmung zur Kurzarbeit gibt der Arbeitnehmer in der Regel unter der Bedingung, dass ihm dafür nicht gekündigt wird. Wird später dennoch gekündigt, so hat der Arbeitnehmer Anspruch auf die Differenz zum vollen Lohn».

Worum ging es in diesem Entschied? Die Analyse des Entscheidtextes ergibt, dass nur der Anteil des 13. Monatslohnes ins Recht gefasst und als zahlungspflichtig bezeichnet wurde. Die Lohndifferenz von 80% auf 100% dagegen wurde nicht eingeklagt. Zwar hielt das Gericht dafür, dass «Sinn und Bedingung der Kurzarbeit [ist], dass keine Kündigungen ausgesprochen werden. Der Arbeitnehmer gibt also ausdrücklich oder stillschweigend nur eine bedingte Zustimmung. Diese Bedingung fällt mit der Kündigung dahin, womit auch die Zustimmung zum modifizierten Arbeitsvertrag dahinfällt. Falls dem Arbeitnehmer während oder unmittelbar nach der Kurzarbeit gekündigt wird, kann er den dadurch erlittenen Ausfall nachträglich vom Arbeitgeber zurückfordern». Im genannten Entscheid wird ebenfalls vermerkt, dass dem Arbeitgeber die Bewilligung zur Kurzarbeit zwar erteilt, diese kurze Zeit später jedoch widerrufen wurde. Zur Auszahlung einer Kurzarbeitsentschädigung kam es nicht. Die Voraussetzungen für den Bezug von Kurzarbeitsentschädigung waren also nicht gegeben. In diesem sozialversicherungsrechtlichen Kontext prekärer Kurzarbeit erscheint der Entscheid in einem anderen Licht, und die in der Regeste gemachte generelle Aussage ist mit Blick auf die Konsequenzen für die Arbeitnehmenden aus guten Gründen zu relativieren, gerade in heutiger Zeit.

III. Das Institut der Kurzarbeitsentschädigung

a. Allgemeines

Zur Erhaltung seines Arbeitsplatzes verzichtet der ausdrücklich oder stillschweigend zustimmende Arbeitnehmende aus wirtschaftlichen Gründen obligationenrechtlich auf 20% seines laufenden Lohnes; der Arbeitgeber kommt nicht in Annahmeverzug nach Art. 324 Abs. 1 OR2. Die Sozialversicherungsbeiträge dagegen verbleiben auf dem 100%-Niveau (Art. 37 lit. c AVIG), so dass dem Arbeitnehmenden hinsichtlich späterer Leistungen kein Schaden entsteht. Das Ziel der Kurzarbeitsentschädigung liegt also unbestrittenermassen in der Verhinderung von Entlassungen wegen vorübergehender (Art. 31 Abs. 1 lit. d AVIG) wirtschaftlicher (Art. 32 Abs. 1 lit. a AVIG) Einbrüche. Fraglich ist, ob der Arbeitgeber den Erfolg der Arbeitsplatzerhaltung schuldet oder – wenigstens – den redlichen Versuch, Entlassungen zu vermeiden.

b. Zweck der Kurzarbeit

Die Kurzarbeitsentschädigung richtet sich als Massnahme des AVIG nicht nur an Arbeitnehmende, sondern auch an die Arbeitgeber3. Sozialversicherungsrechtlich schuldet der Arbeitgeber, der bereits über gesunde organisatorische Strukturen verfügen muss4, im Sinne des Schutzzwecks der Norm den ehrlichen Versuch der Arbeitsplatzerhaltung, nicht aber den Erfolg. Das ergibt sich aus Art. 31 Abs. 1 lit. d i.V.m. Art. 95 Abs. 2 und 3 AVIG und Art. 25 Abs. 1 ATSG: Einem Erlassgesuch gegen die Rückforderung von Leistungen wird stattgegeben, wenn neben dem Vorliegen einer grossen Härte der Leistungsbezug in guten Treuen erfolgte. Eine Judikatur, welche besagte, dass einem Erlassgesuch mangels guten Glaubens einzig deswegen nicht stattgegeben würde, weil nach dem Bezug von Kurzarbeitsentschädigung dennoch Entlassungen ausgesprochen werden (müssen), ist soweit ersichtlich nicht vorhanden. Anlässlich des Bezugs der Kurzarbeitsentschädigung kann der ehrliche Arbeitgeber selbstredend noch nicht wissen, ob er alle Arbeitsplätze tatsächlich erhalten kann; der Bezug erfolgt demnach in guten Treuen, wenn er es ernsthaft beabsichtigt.

c. Einordnung der Arbeitgeberkündigung nach Kurzarbeit

Aus sozialversicherungsrechtlicher Sicht schuldet der Arbeitgeber zusammenfassend den redlichen Versuch, aufgrund gesunder Strukturen die Arbeitsplätze nach Möglichkeit zu erhalten. Gelingt ihm das nicht, wird er im Weiteren nicht in die Pflicht genommen. Es finden sich im Sozialversicherungsrecht demnach keine Anhaltspunkte, dass der Arbeitgeber auf alle Fälle den tatsächlichen Erfolg der Arbeitsplatzerhaltung schuldet. Auch entsprechende verbindliche Fristigkeiten, welche für diesen Fall konsequenterweise vorgesehen sein müssten, lassen sich nicht ausmachen.

Dem Arbeitgeber generell zivilrechtlich über eine Nachzahlung den Erfolg aufzwingen zu wollen, wie die Regeste von JAR 1994, S. 125 es vermuten lässt, liesse zu Ende gedacht als kalkulierbare Alternative für den Arbeitgeber nur die frühzeitige Auflösung des Arbeitsverhältnisses zu, was erstens dem beschriebenen Zweck der Kurzarbeitsentschädigung zuwiderliefe und zweitens dem entlassenen Mitarbeitenden, der keine neue Stelle findet, nur ein Arbeitslosentaggeld von 70% oder 80% bescherte (Art. 22 Abs. 1 und 2 AVIG). Er führe finanziell deutlich schlechter und verlöre darüber hinaus seinen Arbeitsplatz. Insbesondere ginge der Arbeitnehmende der Weiterzahlung der Sozialversicherungsbeiträge zu 100%, wie im Falle der Kurzarbeitsentschädigung, verlustig. Vor allem wäre das Risiko Alter in der zweiten Säule nicht mehr versichert (Art. 22a Abs. 3 AVIG e contrario; Art. 1 Abs. 1 der Verordnung über die obligatorische berufliche Vorsorge von arbeitslosen Personen [SR 837.174]).

IV. Schlussfolgerungen

In jedem Fall liegt die Grenze im Missbrauch des Instituts der Kurzarbeitsentschädigung und ist im Einzelfall zu würdigen. Ein Missbrauch kann im Einklang mit den zitierten Fundstellen in der Literatur vorliegen, wenn in engem zeitlichem Kontext5 mit der Kurzarbeitsentschädigung ohne äussere Situationsänderung dennoch Entlassungen aus wirtschaftlichen Gründen ausgesprochen werden. Obligationenrechtlich liesse dies den Annahmeverzug nach Art. 324 OR wieder aufleben. Wie erwähnt, sehen weder das AVIG noch das OR verbindliche Fristigkeiten vor noch dürfte die Frage der Kündigungsparität ausser Acht gelassen werden. Irène Suter-Sieber hält konsequenterweise unscharf dafür, dass der Arbeitnehmende «nur deshalb in die Kurzarbeit und Lohnkürzung einwilligt, weil er davon ausgeht, sein Arbeitsplatz sei für eine gewisse Zeit gesichert»6.

Es kann heute nicht mehr ohne weiteres unterstellt werden, dass der Arbeitnehmende nach der Entlassung rasch wieder eine Stelle fände, wie dies im fraglichen Entscheidzeitpunkt in der ersten Hälfte der 1990er Jahre noch generell der Fall war und die negativen wirtschaftlichen Folgen einer Entlassung dämpfte. Seither ist sein Risiko, bei Stellenverlust vorübergehend während längerer Zeit kein Alterskapital bei der zweiten Säule mehr ansparen zu können, erheblich gestiegen, denn als Taggeldbezüger bei der Arbeitslosenversicherung sind in der zweiten Säule wie ausgeführt nur die Risiken Tod und Invalidität, ist nicht aber das Alter versichert. Immerhin kann seit dem 1. Januar 2021 ab Alter 58 bei einer Arbeitgeberkündigung die Weiterversicherung in der Personalvorsorgeeinrichtung aufrechterhalten werden (Art. 47a BVG)7. Illusorisch schliesslich wäre das ersatzweise Alterssparen über eine 3. Säule, wie es von den Vollzugsstellen ab und zu empfohlen wird. Bei 70% oder 80% Taggeld nach Massgabe des versicherten Verdienstes (vgl. Art. 22 und 23 AVIG sowie Art. 37 Abs. 1 AVIV) dürfte dies den meisten Menschen mangels hinreichender flüssiger Mittel neben der Tragung der laufenden Lebenshaltungskosten unmöglich erscheinen und auch sein. In der arbeitsrechtlichen Anwendung sollte die Regeste von JAR 1994, S. 125 nach Massgabe des sozialversicherungsrechtlichen Zwecks und der Vorteile der Kurzarbeitsentschädigung für die Arbeitnehmenden überdacht und differenziert umgesetzt werden.

  • 1. Vgl. Jürg Brühwiler, Einzelarbeitsvertrag, Kommentar zur den Art. 319-343 OR, Basel 2014, Art. 324 Rz. 7 i.f. (zit. Brühwiler); Ullin Streiff/Adrian von Kaenel/Roger Rudolph, Arbeitsvertrag, Praxiskommentar zur Art. 319-362 OR, 7. Auflage, Zürich/Basel/Genf 2012, Art. 324 N7 (zit. Streiff/von Kaenel/Rudolph).
  • 2. Frank Vischer/Roland M. Müller, Der Arbeitsvertrag, 4. Auflage, Basel 2014, § 11 Rz. 19 e contrario; Streiff/von Kaenel/Rudolph, Art. 324 N7; Manfred Rehbinder/Jean-Fritz Stöckli, Berner Kommentar zum schweizerischen Privatrecht, Band VI/2/2/1, Art. 319-330b OR, Bern 2010, Art. 324 Rz. 45 (zit. BK-Rehbinder/Stöckli); Adrian Staehelin, Zürcher Kommentar zum schweizerischen Zivilgesetzbuch, Teilband V 2c, Der Arbeitsvertrag, Art. 319-330a OR, 4. Auflage, Zürich/Basel/Genf 2006, Art. 322 Rz. 44 (zit. ZK-Staehelin).
  • 3. Barbara Kupfer Bucher, in: RBS, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Sozialversicherungsrecht, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum AVIG, Hans-Ulrich Stauffer/Basile Cordinaux (Hrsg.), 5. Auflage, Zürich/Basel/Genf 2019, Art. 31 Ziff. 1; Markus Hugentobler, in: Handbücher für die Anwaltspraxis, Band XI, Recht der sozialen Sicherheit, Sabine Steiger-Sackmann/Hans-Jakob Mosimann (Hrsg.), Basel 2014, § 29 Rz. 29.12.
  • 4. BGE 121 V 371 E. 3a verlangt einen «intakten Produktionsapparat»; zum Ganzen im Rahmen der Frage des Betriebsrisikos: SECO, AVIG-Praxis KAE, D2-D6b.
  • 5. Brühwiler, Art. 324 Rz. 7 i.f.; BK-Rehbinder/Stöckli, Art. 324 Rz. 9; Streiff/von Kaenel/Rudolph, Art. 324 N7.
  • 6. Irène Suter-Sieber, Lohn und Kurzarbeitsentschädigung während Kurzarbeit, in: Jusletter 18. Mai 2020, Kap. 5.2. Ziff. 37.
  • 7. Zur Koordination mit der Arbeitslosenversicherung siehe Elisabeth Glättli, Vor und Zurück in der Weiterversicherung älterer Arbeitnehmender nach Art. 47 und 47a BVG, in: Jusletter 20. September 2021, Kap. 1.4. Ziff. 30 f.
iusNet AR-SVR 19.11.2021