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Stiefkinder als Familienangehörige? (9C_97/2017, zur Publikation bestimmt)

Stiefkinder als Familienangehörige? (9C_97/2017, zur Publikation bestimmt)

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Stiefkinder als Familienangehörige? (9C_97/2017, zur Publikation bestimmt)

In diesem zur Publikation bestimmten französischsprachigen Entscheid befasst sich das Bundesgericht mit dem Begriff des «Familienangehörigen» im Rahmen des FZA. Einschlägig sind hier insb. Art. 1 lit. i und Art. 2 der Verordnung (EU) 883/2004. Strittig war der Anspruch auf eine ausserordentliche IV-Rente eines bolivianischen Stiefkindes eines (verstorbenen) EU-Staatsangehörigen. Die kantonale Vorinstanz bejahte den Rentenanspruch gestützt auf das freizügigkeitsrechtliche Diskriminierungsverbot (vgl. zu dieser Frage auch BGE 134 V 236) (E. 2.). Das Bundesgericht hiess die dagegen erhobene Beschwerde der kantonalen IV-Stelle gut.

Der Status als Familienangehöriger wird nach europäischem Recht nicht von einer bestimmten Staatsangehörigkeit abhängig gemacht. Indes bestimmt sich der Begriff primär nach innerstaatlichem Recht (vgl. Art. 1 lit. i VO 883/2004). Abhängig vom innerstaatlichen Recht können Kinder des Ehegatten oder des hetero- oder homosexuellen Partners eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates als Familienangehörige anerkannt werden.

Das Schweizer Sozialversicherungsrecht kennt keine Bestimmung, welche die «Familienangehörigen» definiert. Das gilt namentlich für die Normen des AHVG oder des IVG, in welchen der Begriff des Familienangehörigen verwendet (aber nicht definiert) wird (Art. 3b Abs. 2 lit. b IVG; Art. 3 Abs. 2 lit. d AHVG) (E. 4.2.1). Bei der Auslegung sozialversicherungsrechtlicher Regelungen mit Anknüpfung an familienrechtliche Sachverhalte ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber vorbehältlich gegenteiliger Anordnungen die zivilrechtliche Bedeutung des jeweiligen Instituts im Blickfeld hatte, zumal das Familienrecht für das Sozialversicherungsrecht Voraussetzung ist und diesem grundsätzlich vorgeht (E. 4.2.1 mit Hinweis auf BGE 140 I 77 und BGE 121 V 125).

Das Zivilgesetzbuch (ZGB) definiert den Begriff ebenfalls nicht direkt. Zu den "Familienangehörigen" zählen jedenfalls verheiratete Personen (Art. 90-251 ZGB) sowie Personen, die durch ein Kindesverhältnis miteinander verbunden sind (Art. 252-327 ZGB). Man spricht auch von der sog. Kernfamilie, wozu der Ehegatte und die gemeinsamen Kinder gehören (E. 4.2.1). Stiefkinder werden nur in Art. 299 ZGB (Stiefeltern) erwähnt. Aus der ehelichen Beistandspflicht folgt allgemein auch eine finanzielle Unterstützungspflicht mit Bezug auf die Ausbildung von vor- oder ausserehelichen Kindern des Ehegatten (E. 4.2.1).

Das Sozialversicherungsrecht knüpft vereinzelt an Familienbeziehungen an, die nicht auf einem (juristischen) Kindesverhältnis (zum Begriff vgl. Art. 252 ZGB; BGE 108 II 344 E. 1a S. 347) beruhen. Bei der ausserordentlichen IV-Rente ist dies indes nicht der Fall (Art. 39 Abs. 3 i.V.m. Art. 9 Abs. 3 IVG). Es verhält sich namentlich anders als bei der Kinderrente der AHV (Art. 22ter AHVG) (E. 4.2.1).

Sofern im Schweizer Sozialversicherungsrecht eine nähere Definition der Familienangehörigen fehlt, zählen gemäss Art. 1 lit. i Ziff. 2 VO 883/2004 der Ehegatte, die minderjährigen Kinder und die unterhaltsberechtigten volljährigen Kinder zu den Familienangehörigen. «Kind» setzt nach dieser Bestimmung ein (juristisches) Kindesverhältnis zum Staatsangehörigen des Mitgliedstaates voraus. Die Nachkommen des Ehegatten werden nicht erwähnt. Aus der EuGH-Rechtsprechung ergibt sich nichts Abweichendes (E. 4.2.2) Die migrationsrechtliche Rechtsprechung zum Nachzug von Stiefkindern mit Drittstaatsangehörigkeit (vgl. BGE 136 II 65) ist vorliegend nicht einschlägig (E. 4.2.3). Namentlich findet Art. 3 Anhang I FZA im Bereich der sozialen Sicherheit keine Anwendung (E. 4.2.3 am Ende).

Gestützt auf diese Grundsätze konnte das Stiefkind eines EU-Staatsangehörigen, welches im Rahmen des Familiennachzugs zusammen mit der Mutter in die Schweiz gekommen war, keine ausserordentliche IV-Rente beanspruchen.  

Bemerkungen der Redaktion: Vgl. zum FZA und Art. 9 Abs. 2 IVG Eingliederungsmassnahmen für Kinder von Grenzgängern? (9C_773/2016, zur Publikation bestimmt)

iusNet AR-SVR 11.10.2017