iusNet Arbeitsrecht und Sozialversicherungsrecht

Schlulthess Logo

Arbeitsrecht und Sozialversicherungsrecht > Sozialversicherungsrecht > Kommentierung > Kanton > Invalidenversicherung > Posttraumatische Belastungsstörung Nach Banküberfall Iv Relevant Kantonsgericht

Posttraumatische Belastungsstörung nach Banküberfall IV-relevant (Kantonsgericht Luzern)

Posttraumatische Belastungsstörung nach Banküberfall IV-relevant (Kantonsgericht Luzern)

Kommentierung
Invalidenversicherung

Posttraumatische Belastungsstörung nach Banküberfall IV-relevant (Kantonsgericht Luzern)

I. Sachverhalt

Das Urteil des Kantonsgerichts Luzern vom 14.2.2018 (5V 1719)1 betrifft eine Versicherte mit Jahrgang 1958. Diese arbeitete als Kundenberaterin in einer Bank. Dort wurde sie im November 2015 Opfer eines bewaffneten Banküberfalls: Dabei betrat der Täter unmaskiert den leeren Schalterraum, nahm einen Revolver aus der Tasche, richtete diesen unter dem Panzerglas hindurch auf die Versicherte und sagte, dies sei ein Überfall. Daraufhin legten sich die Versicherte und weitere Angestellte zu Boden und so ausser Sichtweite des Täters. Dort lösten sie den stillen Alarm aus. Der Täter verschwand daraufhin ohne Beute (E. 3.1).

In der Folge wurde die Versicherte arbeitsunfähig: Die behandelnden Ärzte diagnostizierten eine posttraumatische Belastungsstörung (= PTBS) mit depressiver Entwicklung. Weder Psychotherapie noch ein stationärer Klinikaufenthalt besserten die Symptomatik der PTBS (E. 3.4 und 3.7).

Die IV verneinte Ende November 2016 einen invalidisierenden Gesundheitsschaden und lehnte ein Leistungsgesuch ab: Die RAD-Ärztin hätte eine PTBS verneint. Zudem heile eine PTBS gemäss RAD mehrheitlich aus. Und überdies sei auch die Unfallversicherung von einer Überwindbarkeit innerhalb von Wochen oder Monaten ausgegangen (E. 4.3).

Im Dezember 2016 bejahte ein Gutachten der Krankentaggeldversicherung eine PTBS mit voller Einschränkung der Arbeitsfähigkeit in angestammter Tätigkeit (E. 3.9).

Gegen die negative IV-Verfügung erhob die Versicherte anfangs 2017 Beschwerde ans Kantonsgericht.

Ende November 2017 bestätigte ein Verlaufsgutachten der Krankentaggeldversicherung eine volle Arbeitsunfähigkeit in der angestammten Tätigkeit. Beide KTG-Gutachten gab die Versicherte zu den Gerichtsakten.

Das Kantonsgericht heisst die Beschwerde gut und bejaht den Anspruch auf eine ganze Rente und berufliche Massnahmen.

II. Zusammenfassung des Entscheids

Das Kantonsgericht begründet sein Urteil wie folgt:

Es spricht nicht gegen eine IV-Relevanz, dass in der Mehrzahl der Fälle eine Heilung der PTBS erwartet werden kann, und nur bei wenigen Patienten ein chronischer Verlauf mit Krankheitsentwicklung eintritt. Allein aus einer statistischen Wahrscheinlichkeit kann nicht auf einen Verlauf bei einer konkreten Person geschlossen werden (E. 4.2 f.).

Eine psychotherapeutische Behandlung alle 2-3 Wochen ist keine ungenügende Ausschöpfung der Therapierbarkeit. Dies erlaubt den Schluss auf eine vollumfängliche Arbeitsfähigkeit nicht. Zudem muss die Therapiefrequenz im Rahmen der übrigen wahrgenommenen Therapien beurteilt werden (E. 5.3.2 S. 13 unten).

Eine leichte depressive Episode nach ICD-10 F 32.0 ist eine relevante Komorbidität (E. 5.3.3 S. 14).

Eine gute Therapiemotivation und Compliance sprechen nicht gegen eine IV-Relevanz, sondern sind wenn dann als massgebliche Faktoren für eine im Behandlungsverlauf zu erwartende Verbesserung und damit spätere Überwindung zu berücksichtigen. Sie vermögen jedenfalls zum Zeitpunkt des hypothetischen Renteneintritts noch keine zumutbare Arbeitsfähigkeit zu bewirken (E. 5.4 S. 14).

Von einer Bewältigung des Alltags kann nicht direkt auf eine vollumfängliche Arbeitsfähigkeit im Sinne einer Parallelität geschlossen werden, da im Erwerbsbereich in der Regel nicht im eigenen Tempo oder unter Einlegen von Pausen gearbeitet werden kann (E. 5.6.2 S. 15).

Gemäss BGE 142 V 342 halten bei etwa 10 % der von einer PTBS betroffenen Personen Symptome über Jahre hinweg an. Gemäss dem zur Publikation vorgesehenen Urteil 8C_841/2016 E. 4.2.1 muss in jedem Einzelfall eine Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit unabhängig von der Diagnose und grundsätzlich unbesehen der Ätiologie ausgewiesen und in ihrem Ausmass bestimmt sein. Entscheidend ist die Frage, ob es der betroffenen versicherten Person unter Berücksichtigung der gesamten gesundheitlichen Situation zumutbar ist, eine Arbeitsleistung zu erbringen, was sich nach einem weitgehend objektivierten Massstab beurteilt. Schliesslich ist auch darauf hinzuweisen, dass in der Invalidenversicherung die Therapierbarkeit eines Leidens dem Eintritt einer rentenbegründenden Invalidität nicht absolut entgegensteht (E. 4.3 S. 10).

Vorliegend sei das Gutachten der Krankentaggeldversicherung beweiskräftig. Dieses decke sich mit den Beurteilungen aller behandelnden Ärzte. Die Indikatoren von BGE 141 V 281 seien erfüllt. Damit stehe eine Invalidität fest (E. 5.7 sowie E. 4.4).

III. Kommentar

Bei der PTBS handelt es sich um eine Störung, die nicht nur keinen Bezug zu einem organischen Geschehen aufweist, sondern für die sich keine oder kaum objektivierbare Befunde erheben lassen, was namentlich auf ihre typischen Symptome (Nachhallerinnerungen, Alp-/Träume, Wiedererleben, Vermeidungsverhalten, Überwachsamkeit, erhöhte Schreckhaftigkeit) zutrifft. Dazu können weitere vielfältige Symptome treten, die ebenso bei anderen Störungen vorkommen und nach differenzierter Prüfung rufen. Auch der Verlauf zeigt sich sehr wechselhaft und nicht prognostizierbar, wobei progrediente Entwicklungen kaum zu erwarten sind und Chronifizierung, verbunden mit sozialem Rückzug und Antriebsmangel, eher selten auftritt. Bei einem dergestalt schwer fassbaren, rein subjektiven, nicht objektivierbaren und unspezifischen Krankheitsbild ist in Zusammenhang mit der Diagnosestellung in besonderer Weise auf Ausschlussgründe (Aggravation und dergleichen) zu achten. Soweit es darüber hinaus vor allem um die Folgenabschätzung geht, mithin darum, die Auswirkungen der Störung auf das Leistungsvermögen bzw. die Arbeitsfähigkeit zu erheben und zu gewichten, bedarf es auch bei der PTBS des "konsistenten Nachweises" mittels "sorgfältiger Plausibilitätsprüfung". Deshalb gilt das strukturierte Beweisverfahrens unter Verwendung der Standardindikatoren nach Massgabe von BGE 141 V 281 E. 4.1.3 vor dem rechtlichen Hintergrund des Art. 7 Abs. 2 ATSG (BGE 142 V 342 E. 5.2.3).

Der Fall illustriert, wie wichtig es in der Praxis ist, dass Versicherte mit psychosomatischen Beschwerden therapeutische und eingliederungsspezifische Lösungsansätze beanspruchen - falls diese überhaupt zur Verfügung stehen. Die Inanspruchnahme therapeutischer und eingliederungsspezifischer Lösungsansätze ist aber nicht immer gewährleistet:

Vorliegend entscheidend für die Bejahung von IV-Ansprüchen waren denn auch das eine Arbeitsunfähigkeit begründende Gutachten der Krankentaggeldversicherung, die Inanspruchnahme aller empfohlenen Behandlungen (inkl. stationärer Therapie) und die gleichwohl fehlende Besserung der PTBS-Symptomatik, weiter das Scheitern eines Wiedereingliederungsversuchs.

Ob beispielsweise eine Fachärztin für Psychiatrie verfügbar ist, hängt bei ausländischen Versicherten von der Sprachkompetenz ab, weiter von der Auslastung der örtlichen Dienstleister, und auch von der Einsicht des Hausarztes zur Überweisung an einen Spezialisten. Die Versicherte hat kaum Einfluss darauf, ob ihre Fachärztin für Psychiatrie ein Medikament (und wenn ja das Richtige aus Sicht des Gutachters) anordnet, die Dosis erhöht, oder gar stationär einweist. Ob ein Arbeitsversuch möglich ist, hängt ab vom Goodwill des Arbeitgebers und vom Engagement des RAV-Mitarbeiters, und/oder ob die Krankenkasse im Rahmen eines Case Managements ein solches finanziell unterstützt. Zudem bringen längst nicht alle Versicherten die nötige Qualifikation mit, sodass sie sich für einen Arbeitsversuch eignen. Aleatorisch ist auch, ob die Krankentaggeldversicherung Hand bietet für ein medizinisches Schiedsgutachten. Ob eine Rechtsvertretung besteht und wie diese den Fall hinsichtlich Indikatoren begleitet, darauf hat eine Versicherte auch nur beschränkt Einfluss. Zudem hat eine wie hier Alleinstehende weniger mobilisierbare Ressourcen im sozialen Kontext.

Die vorliegend am Recht Stehende hatte das Glück, dass alle Voraussetzungen für das Erfüllen der Indikatoren gegeben waren (BGE 141 V 281). Dies wirkte sich im Ergebnis positiv auf den Anspruch auf IV-Leistungen aus. Insofern ist der Entscheid zu begrüssen.

Grundrechtlich problematisch bleibt, dass nicht alle Versicherten gleiche Chancen und Möglichkeiten zur Beanspruchung von Therapien und Eingliederungsbemühungen haben. Damit gefährden die Indikatoren aufgrund der ungleichen individuellen Chancen und Möglichkeiten im Ergebnis die Rechtsgleichheit; bei gleichem Krankheitsbild kann der Leistungsentscheid diametral anders ausfallen.

  • 1. Der Entscheid wird aus Datenschutzgründen nicht veröffentlicht.
iusNet AR-SVR 17.05.2018