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IV-Rentenrevision: Revisionsnachweis; Verhältnis von medizinischer Abklärung, Wiedereingliederung, Rentenaufhebung und Weiterausrichtung der Rente

IV-Rentenrevision: Revisionsnachweis; Verhältnis von medizinischer Abklärung, Wiedereingliederung, Rentenaufhebung und Weiterausrichtung der Rente

Kommentierung
Invalidenversicherung

IV-Rentenrevision: Revisionsnachweis; Verhältnis von medizinischer Abklärung, Wiedereingliederung, Rentenaufhebung und Weiterausrichtung der Rente

Urteil Kantonsgericht Luzern 10. August 2018 (5V 17 405)

Sachverhalt:

Mit rechtskräftigem Urteil vom 10.8.2018 entschied das Kantonsgericht Luzern wie folgt:

Ein ausländischer Bauarbeiter verunfallte vor rund 20 Jahren als ca. 35-Jähriger: Ein Betonbalkon brach ein, er stürzte aus sieben Metern Höhe und wurde unter den Betonteilen begraben (E. 5.4.1). Dabei erlitt er somatische Verletzungen vor allem an der Schulter. Die Suva zahlte drei Jahre lang Taggeld und verfügte im Jahr 2005 eine IV-Rente von 80 % sowie eine IE von 10 %. Infolge einer mittelgradigen Depression mit somatischem Syndrom sprach die IV im Jahr 2002 eine ganze Rente zu. Mehrere Rentenprüfungen der IV bestätigten den Rentenanspruch.

2014 überprüfte die IV die Rente erneut. Dabei führte sie eine berufliche Abklärung von einem halben Jahr durch. Im Frühjahr 2017 erstellte die MEDAS ABI GmbH ein polydisziplinäres Gutachten (S. 1-2). Gestützt darauf ging die IV von einer Remission der Depression aus und stellte die Rente ein (E. 1.2). Dagegen erhob der Versicherte Beschwerde ans Luzerner Kantonsgericht. Dieses heisst die Beschwerde gut und verpflichtet die IV, weitere Abklärungen in Form eines medizinischen Vergleichsgutachtens durchzuführen und berufliche Massnahmen zu prüfen. Unterdessen sei die Rente weiter auszurichten (E. 6.7).

Zusammenfassung:

Das Kantonsgericht begründet sein Urteil wie folgt:

Der orthopädische Gutachter des ABI nehme keinen Bezug zur ursprünglichen Berentung und lege auch nicht dar, warum er im Gegensatz zur Einschätzung der Klinik Bellikon im ursprünglichen Berentungszeitpunkt (Jahr 2002) eine Leistungseinschränkung verneine. Auch begründe er die von ihm gegenüber Bellikon höher eingeschätzte Gewichtslimite nicht (E. 5.3). Der psychiatrische ABI-Gutachter betone eine Alkoholabhängigkeitsproblematik, obschon der seitens des Versicherten beschriebene übermässige Alkoholkonsum dem Laborbefund widerspreche. Er werte das Unfallereignis als nicht genügend schwer, um eine Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung zu bewirken, wobei er die früheren ärztlichen Befunde nicht diskutiere. Spekulationen zum Verlauf der Depression beziehe er nicht auf den konkreten Fall. Weiter behaupte er, zwar könne mit einer Alkoholabstinenz eine Arbeitsfähigkeit erreicht werden. Gleichzeitig stelle er aber eine ungünstige Prognose. Aktenwidrig orte er den Grund für das Scheitern der beruflichen Massnahmen bei motivationalen Faktoren (E. 5.4.1 f.). Damit beurteile der psychiatrische Gutachter bei grundsätzlich gleich gebliebenem Sachverhalt die Gesundheit neu. Er lege die behauptete Verbesserung und die veränderte psychiatrische Diagnose nicht dar. Zudem sei die Alkoholproblematik neu hinzugetreten. Dies stelle die seitens Gutachter behauptete Primärproblematik des Alkohols in Frage. Zudem widerspreche sich der Gutachter wenn er einerseits von einer vollen Arbeitsfähigkeit ausgehe, andernorts aber dafür Alkoholabstinenz voraussetze und dies für berufliche Massnahme zur Bedingung mache (E. 5.4.2). Das psychiatrische Teilgutachten sei sehr knapp und oberflächlich, inkonsistent und widersprüchlich und nicht beweistauglich. Zudem fehle auch somatisch ein Verlaufsgutachten (E. 5.5). Der Versicherte hatte während mehr als 16 Jahren eine Rente und sei seit über 19 Jahre vom Arbeitsmarkt abwesend (E. 6.1). Im Regelfall sei eine wiedergewonnene Arbeitsfähigkeit erwerblich zwar mittels Selbsteingliederung zu verwerten. Ausnahmsweise (ab Alter 55 oder nach 15-jährigem Rentenbezug) sei jedoch die Verwertbarkeit von vorgängigen befähigenden beruflichen Massnahmen abhängig zu machen (E. 6.2). Hier habe die IV den Versicherten auf die Selbsteingliederung verwiesen, ohne die tatsächliche Verwertbarkeit der behaupteten Arbeitsfähigkeit zu prüfen. Unmittelbar vor der Rentenaufhebung habe sie keine Eingliederungsmassnahme vorgenommen. Dies widerspreche dem Ansinnen der IV im Jahr 2015, eine sorgfältige Wiedereingliederung zu planen. Die Verwaltung habe daher den gesundheitlichen Zustand nochmals zu klären und danach die im Jahr 2015 begonnenen beruflichen Massnahmen weiterzuführen (E. 6.3). Zwar bleibe bei einer Rentenaufhebung oder -herabsetzung nach gerichtlicher Rückweisung der Sache an die Verwaltung zur weiteren Sachverhaltsabklärung zur Folge der ursprüngliche Revisionszeitpunkt erhalten (E. 6.4). Bei der Rückweisung der Sache zur Prüfung der Verwertbarkeit und Durchführung befähigender beruflicher Massnahmen hingegen gehe man davon aus, es sei altersbedingt oder infolge des langjährigen Rentenbezugs nicht möglich, die neu gewonnene Arbeitsfähigkeit umgehend und selbständig wieder zu verwerten, was eine Unterstützung seitens der Invalidenversicherung bei der Reintegration in den Arbeitsmarkt bedingt. Die Prüfung der Verwertbarkeit der revisionsweise festgestellten Arbeitsfähigkeit und berufliche Massnahmen müssten in dieser Konstellation vor der Anpassung der Rente erfolgen. Mangels erstellter sozialpraktischer Verwertbarkeit der wiedergewonnenen Arbeitsfähigkeit dürfe die Invalidenrente nicht revisionsweise aufgehoben werden, solange die Hilfestellung durch eine aktive Unterstützung der IV-Stelle (falls notwendig gar in Form einer Umschulung) nicht erfolgt sei (E. 6.5). Um den Schutz älterer oder langjähriger Rentenbezüger nicht zu unterlaufen, sei über die Anpassung der Rente erst zu entscheiden, wenn die Verwertbarkeit der Arbeitsfähigkeit verbindlich festgestellt werden könne (d.h. nach Klärung der medizinischen und eingliederungsspezifischen Massnahmen, E. 6.6).

Kommentar:

Medizinische Administrativgutachten sind häufig die wichtigste Entscheidungsgrundlage. Gleichzeitig ist das Überprüfungsvermögen der rechtsanwendenden Behörde naturgemäss begrenzt: Das medizinische Sachverständigengutachten ist im Gerichtsverfahren mit Blick auf die fachfremde Materie nur beschränkt überprüfbar. Der Rechtsanwender sieht sich manchmal mangels ausreichender medizinischer Fachkenntnisse kaum in der Lage, in formal korrekt abgefassten Gutachten objektiv-fachliche Mängel zur erkennen. Zugleich steht die faktisch vorentscheidende Bedeutung der medizinischen Gutachten für den Leistungsentscheid in einem Spannungsverhältnis zur grossen Streubreite der Möglichkeiten, einen Fall medizinisch zu beurteilen, und zur entsprechenden geringen Vorbestimmtheit der Ergebnisse (BGE 138 V 271, E. 1.2.1 f.). Umso wichtiger ist es für Gerichte, in Revisionsfällen genau zu prüfen, ob eine Veränderung auch wirklich erstellt ist. Das vorstehende Urteil zeigt dies illustrativ auf: Der Teufel liegt oft im medizinischen Detail. Dies zu bewältigen bedarf Erfahrung im Bereich der Würdigung medizinischer Gutachten sowie einer gerichtlich ergebnisoffenen, kritischen und akribischen Vorgehensweise mit Vergleich der medizinischen Details.

Beweisbelastet für den Revisionsgrund ist die Sozialversicherung (vgl. Thomas Locher, Grundriss des Sozialversicherungsrechts, 3. Aufl., Bern 2002, S. 254; vgl. auch BGE 130 V 349 ff., E. 3.5.). Zur "Dichte" des Revisionsnachweises hält das Bundesgericht fest: Wegen des vergleichenden Charakters des revisionsrechtlichen Beweisthemas und des Erfordernisses, erhebliche faktische Veränderungen von bloss abweichenden Bewertungen abzugrenzen, müsse deutlich werden, dass die Fakten, mit denen die Veränderung begründet wird, neu sind oder dass sich vorbestandene Tatsachen in ihrer Beschaffenheit oder ihrem Ausmass substantiell verändert haben. Eine verlässliche Abgrenzung der tatsächlich eingetretenen von der nur angenommenen Veränderung sei nicht erreicht, wenn bloss nominelle Differenzen diagnostischer Art bestehen. Zur Bejahung eines Revisionsgrundes haben die ärztlichen Sachverständigen aufzeigen, welche konkreten Gesichtspunkte in der Krankheitsentwicklung und im Verlauf der Arbeitsunfähigkeit zu ihrer neuen diagnostischen Beurteilung und Einschätzung des Schweregrades der Störungen geführt haben. Sachverständige müssen sich, soweit verfügbar, mit den Fakten fundiert auseinandersetzen, insbesondere aus den für den früheren Entscheid massgebenden medizinischen Vorakten (Urteil vom 29.8.2011, 9C_418/2010, E. 4.3.).

Sodann überzeugen die gerichtlichen Ausführungen, wonach zum Schutz älterer (über 55 Jahre) oder langjähriger Rentenbezüger über die Anpassung der Rente erst entschieden werden darf, wenn die Verwertbarkeit der Arbeitsfähigkeit verbindlich festgestellt ist. Andernfalls bliebe eine Verletzung von Art. 43 ATSG ohne Konsequenz. Und das erstrebenswerte Ziel einer effektiven Wiedereingliederung würde verfehlt.

iusNet AR-SVR 14.12.2018