iusNet Arbeitsrecht und Sozialversicherungsrecht

Schlulthess Logo

Arbeitsrecht und Sozialversicherungsrecht > Sozialversicherungsrecht > Kommentierung > Kanton > Invalidenversicherung > Die 7 Iv Revision

Die 7. IV-Revision

Die 7. IV-Revision

Kommentierung
Invalidenversicherung

Die 7. IV-Revision

Überblick über wichtige Neuerungen

I. Ausgangslage

Die Invalidenversicherung (IV) steht wieder einmal erheblichen Neuerungen gegenüber, die am 1. Januar 2022 in Kraft treten. Das erklärte Ziel ist eine adäquate und koordinierte Unterstützung von Kindern, Jugendlichen und Menschen mit psychischen Problemen, um das Eingliederungspotenzial der Versicherten zu stärken und so ihre Vermittlungsfähigkeit zu verbessern.1

Erinnert man sich daran, dass die IV gegenüber dem AHV-Fonds stark verschuldet ist,2 überrascht die im Jahr 2015 angekündigte – mittlerweile 7. – IV-Revision nicht, wobei der Bundesrat in seiner Medienmitteilung explizit von der «Entschuldung» der IV sprach.3 Wenn die Botschaft also von der «Weiterentwicklung» der IV spricht,4 ist mit Weiterentwicklung zumindest teilweise und einmal mehr auch die finanzielle Sanierung der IV zu verstehen.5 So soll die Revision auch zur Qualitätssicherung und Transparenz in der gutachterlichen Tätigkeit beitragen, womit mit grosser Wahrscheinlichkeit ein verstärkter Eingriff in die Stellung der invaliden Personen einhergeht. Im Weiteren soll das gegenwärtige, mehrstufige Rentensystem durch ein stufenloses System ersetzt werden.6

Dass wieder die Eingliederung im Fokus steht, überrascht nicht, so hat sich die Anzahl der Personen, denen eine Massnahme der beruflichen Eingliederung vergütet wurde, seit der 5. IV-Revision verdoppelt und die Anzahl der Neurenten hat sich in den letzten zehn Jahren halbiert.7 Aber bei dieser positiven Bilanz dürfen zwei wichtige Problembereiche nicht vergessen gehen: Die Neurentenquote bei psychischen Erkrankungen ist demgegenüber nur wenig zurückgegangen und die Neurentenquote der 18- bis 24-Jährigen stagnierte lediglich.8 Somit zeigten die letzten IV-Revisionen bei diesen Personengruppen nicht den erwarteten Erfolg. Die Botschaft des Bundesrates ortet daher folgenden Handlungsbedarf:9

  • Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit psychischen Beeinträchtigungen benötigen koordinierte Beratung und Begleitung.
  • Die Anstrengungen vor einer allfälligen Rentenprüfung müssen verstärkt werden, um das Risiko einer Berentung von jungen versicherten Personen so weit als möglich zu reduzieren.
  • Die berufliche Eingliederung von Personen mit psychischen Beeinträchtigungen erfordert eine möglichst frühzeitige Erkennung, eine bedarfsorientierte und langfristige Beratung und Begleitung sowie auf den Einzelfall zugeschnittene Massnahmen.
  • Zum Arbeitsplatzerhalt und zur erfolgreichen Eingliederung ins Berufsleben ist die konstruktive Zusammenarbeit aller beteiligten Akteure unverzichtbar. Zu diesen Partnern gehören Arbeitgeber sowie Ärztinnen und Ärzte ebenso wie Schulen, Institutionen und andere Sozialversicherungen. Ihre Koordination ist mit geeigneten Instrumenten zu fördern.

Konkretes Ziel der 7. IV-Revision ist es daher, das Eingliederungspotenzial und die Vermittlungsfähigkeit folgender Zielgruppen zu stärken:10

  • Kinder (0-13): Die veraltete Liste der Geburtsgebrechen, deren Behandlung bei Kindern von der IV übernommen wird, soll aktualisiert werden.
  • Jugendliche und junge psychisch erkrankte Versicherte (13–25): Sie sollen insbesondere an den Übergängen zwischen Schule und Ausbildung sowie Ausbildung und Berufsleben besser unterstützt werden.
  • Psychisch erkrankte Versicherte (25–65): Für sie sollen die Eingliederungsmassnahmen flexibilisiert sowie die kontinuierliche Beratung und Begleitung verstärkt werden.

Bei allen drei Zielgruppen soll die Koordination der beteiligten Akteure verbessert werden. Renten werden gezielter und nur dann zugesprochen, wenn das Eingliederungspotenzial der versicherten Person abschliessend ausgeschöpft wurde und die Eingliederung aus gesundheitlichen Gründen zum aktuellen Zeitpunkt unmöglich ist. Im Nachfolgenden werden die zentralen Neuerungen dargestellt.

II. Neuerungen für die jeweiligen Zielgruppen

1. Kinder

Eines der zentralen Revisionsthemen ist die intensivere Begleitung der Personen und eine intensivere Steuerung in den Fällen, in denen ein Kind oder eine jugendliche Person von einem Geburtsgebrechen betroffen ist und medizinische Massnahmen benötigt. Im Rahmen der 7. IV-Revision wird insbesondere die Liste der Geburtsgebrechen auf den neusten Stand gebracht.11

Im bisherigen IVG sind keine klaren Kriterien aufgeführt, nach denen ein Geburtsgebrechen auf die Liste aufgenommen wird. Mit der Weiterentwicklung der IV werden nun solche Kriterien in Art. 13 E-IVG aufgenommen. Diese stützen sich auf die einschlägige Rechtsprechung ab. Ihre Verankerung auf Stufe Gesetz schafft Klarheit und Rechtssicherheit sowohl für die Rechtsanwender als auch für die Versicherten. Der Bundesrat wird per Gesetz beauftragt, die Geburtsgebrechen, die diesen Kriterien entsprechen, in der Verordnung zu bestimmen. Diese Aufgabe wird dem Eidgenössischen Departement des Innern (EDI) übertragen, weshalb die heutige Verordnung über Geburtsgebrechen (GgV) durch eine Departementsverordnung des EDI ersetzt wird.12 Die Kriterien zur Aufnahme eines Geburtsgebrechens in die Liste der Geburtsgebrechen werden neu ausführlich in Art. 3 bis Art. 3novies E-IVV geregelt.

2. Jugendliche

Für die Gesetzgebung schien es zentral, dass junge Menschen nicht als Rentnerinnen oder Rentner ins Erwachsenenleben starten. Eine Rente soll daher erst zugesprochen werden, wenn alle Massnahmen zur Eingliederung ausgeschöpft worden sind. Die IV baut deshalb die Instrumente aus, die Jugendlichen mit psychischen oder anderen Beeinträchtigungen im Übergang von der Volksschule zur ersten beruflichen Ausbildung helfen: So sollen die bei Erwachsenen bewährten Instrumente der Früherfassung und der sozialberuflichen Integrationsmassnahmen künftig auch Jugendlichen zugutekommen.13 Die IV kann zudem vorgelagerte kantonale Angebote zur Eingliederung Jugendlicher, insbesondere zur Vorbereitung auf die erste Berufsausbildung, und das kantonale Case-Management Berufsbildung mitfinanzieren. Jugendliche, die aufgrund ihrer Invalidität bei der Berufswahl Schwierigkeiten haben, erhalten zusätzlich zur Berufsberatung auch Anspruch auf eine vorbereitende Massnahme zum Eintritt in die Ausbildung.

3. Psychisch erkrankte Versicherte

Bei psychischen Beeinträchtigungen kann der Krankheitsverlauf starken Schwankungen unterliegen, weshalb für viele Betroffene eine frühzeitige und kontinuierliche Beratung und Begleitung entscheidend ist. Die Gesetzesrevision weitet deshalb das Instrument der Früherfassung aus. Unter dem bisherigen Früherfassungsregime kam die IV in vielen Fällen verspätet zu Informationen, denn die Früherfassung war auf Personen begrenzt, die seit mindestens 30 Tagen arbeitsunfähig sind oder während eines Jahres wiederholte Kurzabsenzen aufweisen. Gerade bei Versicherten mit psychischen Schwierigkeiten ist die Invalidisierung aber ein schleichender Prozess, der lange vor Eintritt einer Arbeitsunfähigkeit beginnen kann und oft von psychosozialen Problemen begleitet ist. Damit dieser ungünstigen Entwicklung entgegengewirkt werden kann, werden nunmehr auch Personen, die von einer länger dauernden Arbeitsunfähigkeit bedroht sind, vom subjektiven Geltungsbereich der erfasst (Art. 3abis Abs. 2 Bst. b E-IVG). Zudem soll das Instrument der Integrationsmassname, also Massnahmen zur Vorbereitung auf die berufliche Eingliederung, besser «erschlossen» werden, weshalb jede Arbeitgeberin, bei der Massnahmen durchgeführt werden, Anspruch auf eine Entschädigung hat, und zwar nicht mehr nur die aktuelle Arbeitgeberin der versicherten Person.14

Schliesslich wird der Personalverleih in der IV definitiv eingeführt. Dabei stützt sich die IV auf die positiven Erfahrungen ab, die sie mit verschiedenen Pilotprojekten (XtraJobs oder Job-Passerelle) gesammelt hat (vgl. Art. 18abis E-IVG).

III. Strukturelle Neuerungen

1. Eidgenössische Kommission für Qualitätssicherung in der medizinischen Begutachtung

Um die Qualität und Transparenz der Gutachten und der gutachterlichen Tätigkeit zu gewährleisten, hat der Bundesrat die «Eidgenössische Kommission für Qualitätssicherung in der medizinischen Begutachtung» auf den 1. Januar 2022 eingesetzt und ihre Mitglieder gewählt. Sie besteht aus einem Präsidenten und 12 Mitgliedern.15 Drei Personen vertreten die Ärztinnenschaft, je zwei Personen vertreten die Sozialversicherungen (Invaliden- und Unfallversicherung), die Patientinnen- und Behindertenorganisationen sowie die Wissenschaft. Mit je einer Person vertreten sind die Gutachterstellen, die Neuropsychologinnen und Neuropsychologen sowie das versicherungsmedizinische Ausbildungswesen.16

Bisher gab es in der Schweiz keine unabhängige Institution, die mit dieser Aufgabe betraut war, stellt jedoch gemäss Bundesrat eine Notwendigkeit dar.17 So soll die Kommission die Zulassung der Gutachterinnenstellen, das Verfahren zur Gutachtenserstellung und die Ergebnisse der medizinischen Gutachten überwachen und öffentliche Empfehlungen zu diesen Themen aussprechen.18

Die Aufgaben der Eidgenössischen Kommission für Qualitätssicherung in der medizinischen Begutachtung sind im Art. 7p Abs. 1 und 2 E-ATSV umschrieben. Sie umfassen die Ausarbeitung von Empfehlungen zu den Anforderungs- und Qualitätskriterien für das Verfahren zur Erstellung von Gutachten, zu den Kriterien für die Tätigkeit von Sachverständigen sowie deren Aus-, Weiter- und Fortbildung, zu Kriterien für die Zulassung von Gutachterinnenstellen und deren Tätigkeit und zu Kriterien und Instrumenten für die Beurteilung der Qualität von Gutachten. Sie beinhalten ausserdem die Überwachung der Einhaltung dieser Kriterien durch die Sachverständigen und die Gutachterinnenstellen und die Möglichkeit, darauf basierend öffentliche Empfehlungen zu erarbeiten.19

2. Neue Aufgaben der IV-Stellen (insbesondere öffentliche Listen und Fallführung) und Verfahren

Im Rahmen organisatorischer Neuerungen hat die IV-Stelle neuerdings die Aufgabe, eine Liste zu führen und zu veröffentlichen, die insbesondere Angaben zu allen beauftragten Sachverständigen und Gutachterinnenstellen enthält, strukturiert nach Fachbereich, Anzahl jährlich begutachteter Fälle und attestierten Arbeitsunfähigkeiten.20 Das ist sicherlich unter dem Gesichtspunkt der geforderten Transparenz über die Gutachterinnentätigkeit einzelner Gutachterinnenstellen und der möglichen finanziellen Abhängigkeit einzelner Gutachterinnenstellen von einzelnen IV-Stellen zu begrüssen.21

Weiter muss die IV-Stelle neuerdings auf eine durchgehende und einheitliche Fallführung achten. Dabei umfasst diese die Bestandsaufnahme, die Planung des weiteren Vorgehens, die Begleitung und Überwachung der zugesprochenen Leistungen der IV und die interne und externe Koordination mit den betroffenen Stellen und Personen gemäss Art. 41a E-IVV. Im Übrigen will die IV damit auch die Kinder und ihre Familien insbesondere bei komplexen gesundheitlichen Einschränkungen enger begleiten. Die medizinischen Behandlungen werden zur Unterstützung der späteren Eingliederung verstärkt mit anderen Leistungen der IV koordiniert.

In verfahrensrechtlicher Hinsicht sollen neben den polydisziplinären Gutachten neu auch die bidisziplinären Gutachten nach dem Zufallsprinzip an zugelassene Gutachterinnenstellen und Sachverständigen-Zweierteams gemäss Art. 72bis Abs. 1bis E-IVV vergeben werden. Zudem sollen an die berufliche Qualifikation von medizinischen Sachverständigen, die im Auftrag einer Sozialversicherung ein medizinisches Gutachten erstellen wollen, bundesrechtliche Anforderungen nach Art. 7l E-ATSV definiert werden. Zu begrüssen ist letztlich auch die Möglichkeit, die Interviews zwischen der oder dem Sachverständigen und der versicherten Person neu mittels Tonaufnahme erfassen zu können, was sicher für künftige Sozialversicherungsprozesse klarere Verhältnisse schaffen könnte.22

IV. Neuerungen bei der Festlegung der Höhe des Rentenanspruchs und der Zusammenarbeit

1. Stufenloses Rentensystem

Damit die Bedeutung der Erwerbstätigkeit erhöht werden kann, wird für Neurenten ein stufenloses System eingeführt. Im bisherigen Rentensystem mit vier Stufen ist bzw. war es für viele IV-Rentnerinnen und -Rentner nicht attraktiv, mehr zu arbeiten, weil sich wegen der Schwelleneffekten ihr verfügbares Einkommen nicht erhöht bzw. nicht erhöht hat. Die Restarbeitsfähigkeit konnte damit nicht vollständig ausgeschöpft werden.

Mit der Einführung des stufenlosen Rentensystems erhält die prozentgenaue Erhebung des IV-Grades einen höheren Stellenwert und die Schwelleneffekte werden eliminiert. Neu kann bei Invaliditätsgraden zwischen 40 und 70 Prozent jedes Prozent die Höhe der Rente beeinflussen. Damit soll die Partizipation am Arbeitsmarkt und die damit verbundene regelmässige Tagesstruktur gefördert werden, denn gerade bei der im Rahmen dieser Revision unterstützten Zielgruppe mit psychischen Einschränkungen trägt das zur Stabilisierung der Gesundheit bei. So verbessert sich auch die langfristige Perspektive für einen Verbleib oder die Eingliederung im Arbeitsmarkt.23 Unter dem Titel Besitzstandswahrung wird denn auch klargestellt, dass Renten für versicherte Personen, die älter als 55 Jahre alt sind, beim Übergang zum stufenlosen Rentensystem nicht angetastet werden.

Neu soll zunächst die (nunmehr gesetzlich vorgesehene) Statusfestlegung geregelt werden, d.h. es soll festgelegt werden, wann die versicherte Person als erwerbstätig, nicht erwerbstätig oder teilerwerbstätig einzustufen ist (Art. 24septies E-IVV). Weiter sollen allgemeine Grundsätze für den Einkommensvergleich, insbesondere zum massgebenden Zeitpunkt und zur Anwendung statistischer Werte, festgehalten werden (Art. 25 E-IVV). Schliesslich sollen die Festlegung des Einkommens mit und ohne Invalidität geregelt werden: Wenn möglich, ist dabei von den tatsächlichen Löhnen auszugehen, ansonsten sollen statistische Werte die Basis bilden (Art. 26 und 26bis E-IVV). Hierfür sollen grundsätzlich die nicht unumstrittenen Tabellen der Lohnstrukturerhebung (LSE) verwendet werden, die sogenannten Tabellenlöhne;24 andere statistische Werte sollen zur Anwendung kommen, wenn das Einkommen im Einzelfall nicht (oder wohl auch gar realitätsfremd) in der LSE abgebildet ist.

Für die Bemessung des Invaliditätsgrades von Nicht- und Teilerwerbstätigen sollen die bisherigen Regelungen weitgehend unverändert bleiben (Art. 27 und 27bis E-IVV), wobei die Bemessung für Teilerwerbstätige einheitlich und rechtsgleich geregelt werden soll. Erwerbstätigkeit und Aufgabenbereich werden in Zukunft als komplementär betrachtet und zwar dahingehend, dass alles, was nicht als Erwerbstätigkeit gilt, unter die Besorgung des Aufgabenbereichs fällt (Art. 27bis Abs. 1 E-IVV).25

2. Zusammenarbeit

Abschliessend soll die Gesetzesrevision auch die Zusammenarbeit zwischen der Ärztinnenschaft und den IV-Stellen verbessern. Dieser Punkt ist für die Praxis der IV-Stellen von gewisser Bedeutung. In der Regel verfügen die behandelnden Ärztinnen und Ärzte über eine umfassende Kenntnis der Krankheitsgeschichte und der aktuellen gesundheitlichen Situation einer Person. Sie stellen die Diagnose und können Aussagen zu Schweregrad, Auswirkungen und Prognose eines gesundheitlichen Ereignisses machen. Um die Zusammenarbeit zu stärken, werden behandelnde Ärztinnen und Ärzte besser über die IV im Allgemeinen sowie über die Eingliederungsmassnahmen ihrer Patientinnen und Patienten informiert. Zur Erleichterung des gegenseitigen Austauschs wird die IV-Stelle von ihrer Schweigepflicht nach Art. 33 ATSG gegenüber den behandelnden Ärztinnen und Ärzten entbunden. Das ermöglicht einen raschen und informellen gegenseitigen Informationsaustausch und fördert die Zusammenarbeit.

V. Fazit26

Es ist in Erinnerung zu rufen, dass sich die 7. IV-Revision eng an den Zielen der UN-Behindertenrechtskonvention orientieren musste, die eine volle, autonome und gleichberechtige Teilhabe von Menschen mit Behinderung am politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben anstrebt. Mit dem gesetzten Ziel das System der IV zu verbessern, unter der Prämisse, die Eingliederung zu verstärken und eine Invalidität zu verhindern, kann man festhalten, dass diese «Revisionsversprechungen» grösstenteils eingehalten worden sind.

Anlass zu Kritik werden (weiterhin) die nunmehr gesetzlich verankerten Tabellen zur Lohnstrukturerhebung (LSE-Tabellen) des Bundesamtes für Statistik geben, die gerade nicht für den Einkommensvergleich bei der IV entwickelt wurden. Kritisch dabei ist, dass die verwendeten Lohntabellen der LSE zum grossen Teil das Lohnniveau von gesunden Personen abbilden und die Einkommensmöglichkeiten der betroffenen Personen mit einer Invalidität systematisch bzw. statistikimmanent überschätzen. Das Ergebnis sind oftmals zu tiefe Invaliditätsgrade im Niedriglohnsektor je nach Kompetenzniveau, bei denen regelmässig zu tiefe oder gar keine Renten ausbezahlt werden.

Schliesslich wurden im Gutachter- bzw. Gutachterinnenwesen sinnvolle und wichtige Massnahmen beschlossen, es ist aber fraglich, ob sich die «Gesamtqualität» einzelner (und berüchtigter) Gutachterstellen erheblich verbessern werden wie man sich dies zu erhoffen wünscht.

  • 1. Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über die IV, BBl 2017 2535, 2556.
  • 2. Die IV hat verschiedene Sanierungsetappen durchlaufen: Mit dem Bundesgesetz über die Sanierung der IV wurde auf den 1. Januar 2011 ein IV-Fonds von 5 Milliarden Franken errichtet. Zudem wurden die Schuldzinsen vom Bund getragen und der IV 0,4 Mehrwertsteuerprozentpunkte abgetreten (beides jeweils befristet bis Ende 2017). Damit konnten die Schulden gegenüber dem AHV-Fonds von insgesamt 15 Milliarden bis Ende 2017 immerhin um 4,7 Milliarden Franken verringert werden (vgl. dazu die IV-Statistik 2020 des Bundesamts für Sozialversicherungen vom Mai 2021, S. 2).
  • 3. Medienmitteilung vom 25. Februar 2015.
  • 4. Die Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über die IV nennt die 7. IV-Revision explizit «Weiterentwicklung der IV».
  • 5. BBl 2017 2535, 2553, wonach die Schuldenrückzahlung der IV bis ungefähr 2030 abgeschlossen sein soll. Neue Berechnungen gehen aber davon aus, dass die IV im Jahr 2030 immer noch Schulden von 7,7 Milliarden Franken aufweisen wird (vgl. dazu Schäfer, Die Sozialwerke des Bundes verlieren wegen Corona 4 bis 5 Milliarden Franken – der Schuldenabbau der IV rückt noch weiter in die Ferne, in: Neue Zürcher Zeitung [NZZ] vom 2. Juli 2020, Internet: <https://www.nzz.ch/schweiz/die-sozialwerke-des-bundes-verlieren-wegen-co..., zuletzt besucht am 10. Juni 2021.
  • 6. Vgl. Hablützel, «Pflästerlipolitik» in der IV, in: Jusletter vom 10. Mai 2021, S. 3, wonach die dem Sparzwang in der IV gefolgte Rechtsentwicklung des Bundesgerichts nun in unzähligen Bestimmungen zementiert wird.
  • 7. Die 5. IV-Revision trat am 1. Januar 2008 in Kraft und legte den Fokus auf die Eingliederung, wobei ein System der Früherfassung und Frühintervention geschaffen sowie Integrationsmassnahmen zur Vorbereitung auf die berufliche Eingliederung eingeführt wurden.
  • 8. BBl 2017 2535, 2543.
  • 9. BBl 2017 2535, 2555 f.
  • 10. BBl 2017 2535, 2556.
  • 11. Sie wurde seit 1985 nicht mehr revidiert. Die Liste entspricht somit in gewissen Gebieten nicht mehr dem aktuellen wissenschaftlichen Stand.
  • 12. Da die Liste in Zukunft häufiger geändert werden wird, wird die Kompetenz zur Verordnungsgebung direkt dem EDI übertragen. Das erlaubt, schneller auf die medizinischen Entwicklungen zu reagieren, indem zum Beispiel seltene Krankheiten rascher auf die Liste aufgenommen werden können (vgl. Hintergrunddokument des Bundesamts für Sozialversicherungen BSV zur medizinischen Behandlung von Kindern vom 3. November 2021).
  • 13. So können sich von Invalidität bedrohte Minderjährige ab dem vollendeten 13. Altersjahr und junge Erwachsene bis zum vollendeten 25. Altersjahr zur Früherfassung anmelden (vgl. Art. 3abis E-IVG).
  • 14. Vgl. Hintergrunddokument des Bundesamts für Sozialversicherungen BSV zum Ausbau der Unterstützung für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen vom 3. November 2021. Auf Seite 2 wird die mehrmalige Durchführung von Integrationsmassnahmen als «Änderung» aufgeführt, obwohl das schon de lege lata möglich ist (Art. 14a Abs. 3 IVG).
  • 15. Die Mitglieder wurden an der Sitzung vom 24. November 2021 vom Bundesrat gewählt und können im Internet eingesehen werden: <https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/69120.pdf> (zuletzt besucht am 25. November 2021).
  • 16. Dazu Art. 44 Abs. 7 Bst. c E-ATSG und Art. 7o E-ATSV.
  • 17. Vgl. Ebner, Grundlagen und Entstehung der jüngsten Begutachtungsleitlinien, in: SZS 5/21, S. 232–235.
  • 18. Vgl. Ziff. 2 der Einsetzungsverfügung des Bundesrats mit den bereits veröffentlichten Artikeln (Internet: <https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/69129.pdf>, zuletzt besucht am 25. November 2021).
  • 19. Vgl. Ziff. 3 der Einsetzungsverfügung des Bundesrats.
  • 20. Vgl. dazu Art. 57 Abs. 1 Bst. n E-IVG i.V.m. Art. 41b Abs. 1 E-IVV.
  • 21. Vgl. etwa BGE 137 IV 210, E. 2.4 ff.
  • 22. Vgl. Art. 44 Abs. 6 E-ATSG bzw. Art. 7k E-IVV.
  • 23. BBl 2017 2535, 2616 f., wonach die Bemessung des Invaliditätsgrades bestehen bleibt, auch die Eintrittsschwelle mit einem IV-Grad von mindestens 40% bleibt unverändert, damit bei tiefen Beeinträchtigungen der Anreiz zu einer Eingliederungsmassnahme erhalten bleibt.
  • 24. Vgl. zur Problematik die Studie «Nutzung Tabellenmedianlöhne LSE zur Bestimmung der Vergleichslöhne bei der IV-Rentenbemessung» von Guggisberg/Schärrer/Gerber/Bischof vom 8. Januar 2021, (Internet: <https://www.buerobass.ch/fileadmin/Files/2021/CoopRechtsschutz_2021_IV-LSE_GutachtenBASS.pdf>, zuletzt besucht am 25. November 2021, und das zu erwartende BGer Urteil 8C_256/2021 i.S. Rama Isa ./. IV-Stelle Luzern, wobei die öffentliche Urteilsberatung vom 17. November 2021 annulliert wurde. Grund dafür könnte u.U. die Erkenntnisse von Riemer-Kafka und Schwegler sein. In der SZS 6/21, S. 287–319, «Der Weg zu einem invaliditätskonformen Tabellenlohn» kommen die Autorin und der Autor zum Ergebnis, dass die Medianlöhne um rund 14% zu hoch sind, wenn man nur sog. leichte, wechselbelastende Tätigkeiten berücksichtigt. Ein anderer Grund könnte darin liegen, was im Gutachten «Grundprobleme der Invaliditätsbemessung in der Invalidenversicherung» von Egli/Filippo/Gächter/Meier dargelegt wird, nämlich dass der Medianlohn der LSE im tiefsten Kompetenzniveau 1 für Menschen mit Beeinträchtigungen zu hoch ist (Internet: <https://www.wesym.ch/cvfs/5690444/web/wesym.ch/media/medien/2021_Zusamme..., zuletzt besucht am 30. November 2021).
  • 25. Vgl. die Ausführungsbestimmungen zur Änderung des Bundesgesetzes über die IV – Erläuternder Bericht, S. 14 (Internet: <https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/68740.pdf>, zuletzt besucht am 25. November 2021).
  • 26. Manuel Kreis, Rechtsanwalt in Zürich und nebenamtlicher Richter am Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt. Dieser Beitrag gibt ausschliesslich die persönliche Meinung des Autors wieder.
iusNet AR-SVR 03.12.2021