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Berechnungsgrundlage der BVG-Minimalrente bei Verletzung der Anzeigepflicht durch die versicherte Person und folglichem Anspruchsverlust auf überobligatorische Invalidenleistungen

Berechnungsgrundlage der BVG-Minimalrente bei Verletzung der Anzeigepflicht durch die versicherte Person und folglichem Anspruchsverlust auf überobligatorische Invalidenleistungen

Kommentierung
Berufliche Vorsorge

Berechnungsgrundlage der BVG-Minimalrente bei Verletzung der Anzeigepflicht durch die versicherte Person und folglichem Anspruchsverlust auf überobligatorische Invalidenleistungen

BGE 144 V 376

I. Fragestellung
Wie hat eine Vorsorgeeinrichtung ihre obligatorischen Leistungen zu berechnen, wenn eine versicherte Person wegen einer Verletzung der Anzeigepflicht keinen Anspruch auf überobligatorische Invalidenleistungen hat? 
Diese Frage hatte das Bundesgericht im zur amtlichen Publikation vorgesehenen Entscheid 9C_139/2018 vom 20. September 2018 zu beantworten.

II. Sachverhalt
Die versicherte Person hatte beim Eintritt in die neue Vorsorgeeinrichtung einen Fragebogen zu ihrem Gesundheitszustand ausgefüllt. Sie verschwieg dabei, dass sie im laufenden Jahr mehrere Monate lang arbeitsunfähig und wegen einer Depression in ärztlicher Behandlung gewesen war. Nachdem einige Jahre später die Eidgenössische Invalidenversicherung der versicherten Person eine 100%-ige Invalidenrente zusprach, stellte die Vorsorgeeinrichtung bei ihren Untersuchungen die Anzeigepflichtverletzung fest und trat frist- und formgerecht vom überobligatorischen Vorsorgevertrag zurück. Dieser Rücktritt war unbestritten. 
Vor dem Bundesgericht strittig war hingegen die Frage, wie bzw. auf welcher Berechnungsgrundlage die somit noch zu erbringenden obligatorischen Invalidenleistungen zu berechnen sind. 
Die versicherte Person als Klägerin stellte sich auf den Standpunkt, dass die Invalidenleistungen auf der gesamten, aus der überobligatorischen Vorsorge stammenden, eingebrachten Freizügigkeitsleistung berechnet werden sollten. Demgegenüber war die Vorsorgeeinrichtung als Beklagte (mit der Vorinstanz) der Ansicht, dass die aus überobligatorischer Vorsorge stammende eingebrachte Freizügigkeitsleistung bei der Berechnung der BVG-Minimalrente keine Berücksichtigung finden könne. 

III. Erwägungen des Bundesgerichts
Bei der Frage, ob die aus überobligatorischer Vorsorge stammende eingebrachte Freizügigkeitsleistung bei der Berechnung der BVG-Minimalrente zu berücksichtigen ist, wenn die versicherte Person wegen einer Verletzung der Anzeigepflicht keinen Anspruch auf überobligatorische Invalidenleistungen hat, stützte sich die Klägerin argumentativ auf BGE 130 V 9 und machte eine Verletzung von Art. 14 FZG geltend. 
Bezüglich dem Rücktritt hält BGE 130 V 9 E. 5.1 S. 15 fest, dass die Vorsorgeeinrichtung im Bereich der weitergehenden beruflichen Vorsorge keinen rückwirkenden Versicherungsvorbehalt (für vorbestandene Gesundheitsbeeinträchtigungen) anbringen, sondern nur gegebenenfalls den Rücktritt vom überobligatorischen Vorsorgevertrag erklären kann, was die Pensionskasse im vorliegenden Fall ja auch getan hatte. Aus E. 5.2.2 geht hervor, dass sich dieser Rücktritt sodann nur auf das neue überobligatorisch aufgebaute Vorsorgekapitel bezieht, nicht aber auf die von der ehemaligen Pensionskasse erworbene Austrittsleistung. Das Bundesgericht hält sodann im vorliegenden Entscheid fest, dass Art. 14 Abs. 1 FZG  den überobligatorischen Vorsorgeschutz im Umfang der eingebrachten Austrittsleistungen zusichert (vgl. E. 4.1). Foglich beschränkt diese Leseart von Art. 14 FZG das Rücktrittsrecht. Darf bereits bei Eintritt auf einem Teil des überobligatorischen Alterskapitals kein Vorbehalt angebracht werden, so schliesst dies von Vornherein – unabhängig von der Frage der Zulässigkeit – auch einen rückwirkenden Vorbehalt auf dem eingebrachten Teil aus (und damit konsequenterweise auch einen darauf bezogenen Rücktritt als "Ersatzhandlung" bzw. als Korrektiv im Sinne von BGE 130 V 9 E. 5.1 S. 15). Mit anderen Worten gewährt Art. 14 Abs. 1 FZG insoweit Besitzstand auf dem Anrechnungsprinzip, als die Eintrittsleistung Minimalgrösse für die Berechnung des Rentenanspruchs bildet, anerkennt das Bundesgericht (vgl. E. 4.1). Diese Grenze darf reglementarisch nicht unterschritten werden. M.a.W. darf die neue Vorsorgeeinrichtung weder beim Vorsorgeeintritt noch in einem späteren Zeitpunkt einen Vorbehalt anbringen.  Schliesslich hält das Bundesgericht in E. 4.2 fest, dass die Bestimmung des Vorsorgereglements in Bezug auf die Verletzung der Anzeigepflicht und deren Folgen im Bereich der weitergehenden beruflichen Vorsorge gegen die gesetzlichen Konzeption (mit Verweis auf E. 4.1) – wonach der Vorsorgeschutz, der im Zeitpunkt des Übertritts bestand, zu erhalten ist – widerspricht. Die Bestimmung des Vorsorgereglements, wonach bei fehlerhafter oder unvollständiger Gesundheitserklärung bei Beitritt in die Stiftung, Letztere die Leistungen, welche über die vom BVG vorgesehenen Leistungen hinausgehen, definitiv ausgeschlossen werden können, ist nicht anwendbar. Die Beklagte muss daher die Höhe der Invalidenrente unter Einbezug der gesamten eingebrachten Freizügigkeitsleistung neu festsetzen.

IV. Kommentar
Das Urteil ist im Resultat begrüssenswert (und nicht zuletzt für die Versichertengemeinschaft vorteilhaft). Das Bundesgericht bedient sich einer „relativen“ Leseart von Art. 14 FZG. Relativ deshalb, weil sich ein Rücktritt der Vorsorgeeinrichtung nur auf das neue, überobligatorisch aufgebaute Vorsorgekapitel bezieht (aber nicht auf die von der ehemaligen Pensionskasse erworbenen Austrittsleistungen). 
Die Frage sei sodann erlaubt, ob ein solcher Rücktritt vom (überobligatorischen) Vorsorgevertrag die Vorsorgeeinrichtung in letzter Konsequenz nicht auch von der Einrechnung des überobligatorischen Anteils einer eingebrachten Freizügigkeitsleistung für die Berechnung von Invaliden- und Altersrente entbinden sollte. Würde Art. 14 FZG einer „absoluten“ Leseart unterzogen, so läge ein Widerspruch darin, dass die Vorsorgeeinrichtung zwar rückwirkend auf den Zeitpunkt des Vorsorgeeintritts die Bildung überobligatorischer Altersguthaben auflösen darf, aber sie dagegen eingebrachte überobligatorische Freizügigkeitsleistungen bei der Berechnung ihrer Leistungen mitberücksichtigen muss. Es bleibt abzuwarten, ob diese neue Rechtsprechung einer Präzisierung unterliegt.

iusNet AR-SVR 28.01.2019