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Arbeitslosigkeit nach Bezug von Mutterschaftsentschädigung

Arbeitslosigkeit nach Bezug von Mutterschaftsentschädigung

Fachbeitrag
Erwerbsersatz/Mutterschaftsversicherung
Arbeitslosenversicherung

Der Wortlaut eines Gesetzestextes kann im systematischen Rechtskontext auf den ersten Blick auslegungsmässig einfach und klar erscheinen. Dies umso mehr, wenn man sich die historische Entwicklung «intra legem» vor Augen führt. Doch genau da lauert eine Stolperfalle, wenn man das Zusammenspiel verschiedener Sozialversicherungszweige ausser Acht lässt. Das kann zur Fehleinschätzung von Versicherungsansprüchen führen. Umso ärgerlicher ist es, wenn man nicht erkennt, dass es ein Leichtes gewesen wäre, die Versicherungsansprüche aufrechtzuerhalten.

Der Fall

Eine Frau bezog Taggelder der Arbeitslosenversicherung. Während der Leistungsrahmenfrist wurde sie Mutter, woraufhin ihr während 14 Wochen Mutterschaftsentschädigung gemäss Art. 16b ff. EOG ausgerichtet wurde. Um nach den 14 Wochen länger mit dem Kind zusammen sein zu können, beantragte sie bei der Arbeitslosenversicherung die Auszahlung der noch nicht bezogenen Taggelder gestützt auf Art. 9b Abs. 1 AVIG. Ein befreundeter Jurist sagte ihr, das könne sie aufgrund des Gesetzeswortlauts ohne weiteres tun.

Mit recht eigentlichem Entsetzen musste die Mutter in der Folge von einem abschlägigen Entscheid der zuständigen Arbeitslosenkasse Kenntnis nehmen. Sie fragt sich, weshalb sie trotz des klar anspruchsbegründenden bzw. -weiterführenden Gesetzeswortlauts keine weiteren Leistungen der ALV in Form der noch nicht bezogenen Taggelder erhält.

Die Rechtsentwicklung «intra legem»

Mit der Revision des AVIG im Jahr 2003 wurden die altrechtlichen Erziehungsgutschriften durch eine Neuregelung über die Verlängerung der Beitrags- und Leistungsrahmenfristen abgelöst. Die Erziehungsgutschriften basierten auf dem Gedanken, dass die Kindererziehung zu Hause hinsichtlich des volkswirtschaftlichen Nutzens gleich der Arbeit auf dem Arbeitsmarkt zu honorieren und als Beitragszeit anzurechnen ist.

Aktuelle Regelung der Erziehungszeit (Art. 9b AVIG)

Wird die Kindererziehung während der Leistungsrahmenfrist ausgeübt, verlängert sich die Leistungsrahmenfrist um zwei Jahre.

Wird die Kindererziehung ausserhalb einer Leistungsrahmenfrist ausgeübt, verlängert sich die Beitragsrahmenfrist um zwei auf vier Jahre.

Art. 9b Abs. 1 AVIG lautet hinsichtlich der Leistungsrahmenfrist:

«Die Rahmenfrist für den Leistungsbezug von Versicherten, die sich der Erziehung ihrer Kinder gewidmet haben, wird um zwei Jahre verlängert, sofern:

  1. zu Beginn der einem Kind unter zehn Jahren gewidmeten Erziehung eine Rahmenfrist für den Leistungsbezug läuft; und
  2. im Zeitpunkt der Wiederanmeldung die Anspruchsvoraussetzung der genügenden Beitragszeit nicht erfüllt ist.»

Sozialversicherungsbeiträge im Zusammenspiel der Sozialversicherungszweige

Lohn als Arbeitgeberleistung ist eine Bruttoleistung, von welcher Sozialversicherungsbeiträge abzuziehen sind. Krankentaggelder und Unfallversicherungstaggelder sind als Nettoleistungen sozialversicherungsbeitragsbefreit (Art. 6 ff. AHVV).

Eine eingeschränkte Sozialversicherungsbeitragspflicht besteht bei der EO: Abzüge werden erhoben für AHV, IV, EO, ALV (Art. 19a EOG).

Rechtsprechung und Verwaltungspraxis

Gemäss BGE 139 V 482 E. 9 gilt die Rahmenfristverlängerung für den Leistungsbezug im Falle von Erziehungszeiten nur für Versicherte, die während einer laufenden Rahmenfrist für den Leistungsbezug aufgrund der Kindererziehung vorübergehend auf die Ausrichtung von Arbeitslosenentschädigung verzichtet haben.

Laut AVIG-Praxis ALE B77 und B77b wird als «Erziehungszeiten» nur die Zeitdauer berücksichtigt, während der die versicherte Person sich vom Arbeitsmarkt zurückgezogen hat, um Betreuungsaufgaben zu übernehmen. Nur entsprechende Zeiträume, die nicht von der EO entschädigt werden, können als Erziehungszeiten angerechnet werden.

Die Stolperfalle

Weil von der EO während des Mutterschaftsurlaubs neben AHV-, IV- und EO- auch ALV-Beiträge abgezogen wurden, also ALV-Beiträge geleistet wurden, zog sich die Mutter technisch gesehen gar nicht vom Arbeitsmarkt zurück. Das Seco verlangt einen Unterbruch von mindestens einem Monat bzw. 30 aufeinanderfolgenden Tagen, um von einem Rückzug sprechen zu können.1

Die Mutter, welche unmittelbar im Anschluss an den Mutterschaftsurlaub wieder Taggelder beziehen  will, kann die Verlängerung der Leistungsrahmenfrist entgegen dem auf den ersten Blick positiven Gesetzeswortlaut nicht mit Erfolg geltend machen.

Folgerungen

Die Mutter, bei welcher bereits eine Leistungsrahmenfrist der ALV läuft, muss nach Ablauf der MSE mindestens 30 Tage warten, bis sie gestützt auf Art. 9b Abs. 1 AVIG von der verlängerten Leistungsrahmenfrist Gebrauch machen und noch nicht bezogene Taggelder «aufbrauchen» kann. Es sind also 30 Tage Unterbruch vor Wiederanmeldung betreffend Art. 9b Abs. 1 AVIG notwendig.2

Meldet sie sich unmittelbar nach dem Bezug der MSE wieder bei der ALV, wird ihr Leistungsanspruch gestützt auf Art. 9b Abs. 1 AIVG von der Arbeitslosenkasse verneint.

Entschädigt die EO den Mutterschaftsurlaub, ist das in der Sozialversicherungskoordination mit der ALV nicht zwingend ein Segen!

  • 1. AVIG-Praxis ALE B79
  • 2. AVIG-Praxis ALE B79
iusNet AR-SVR 27.10.2023