Anforderung an die Vereinbarung nach Art. 324a Abs. 4 OR
Anforderung an die Vereinbarung nach Art. 324a Abs. 4 OR
Anforderung an die Vereinbarung nach Art. 324a Abs. 4 OR
I. Einleitung und Grundlagen
Bei einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit sieht Art. 324a Abs. 2 OR im ersten Dienstjahr eine Lohnfortzahlung durch die Arbeitgeberin von mindestens drei Wochen vor. Für länger dauernde Anstellungen ist mangels ausdrücklicher gesetzlicher Regelung auf die durch die Gerichte entwickelten Skalen zurückzugreifen. Voraussetzung auf den Anspruch auf Lohnfortzahlung ist, dass das unbefristete Arbeitsverhältnis bereits seit drei Monaten andauert oder dass das befristete Arbeitsverhältnis ohne ordentliche Beendigungsmöglichkeit für mehr als drei Monate eingegangen wurde1. Die Krankheit darf nicht durch den Arbeitnehmer verschuldet sein und muss zur Arbeitsunfähigkeit führen2. Alternativ dazu kann i.S.v. Art. 324a Abs. 4 OR eine Krankentaggeldversicherung abgeschlossen werden, welche bis zum Bezug allfälliger Erwerbsunfähigkeitsrenten existenzsichernd wirken kann3. Dieser umfassende Schutz gilt nicht für alle Arbeitnehmenden, weil es der Arbeitgeberin offensteht, die gesetzlich vorgesehene Lösung nach Art. 324a Abs. 1 OR beizubehalten. Eine Krankentaggeldversicherung ist zulässig, wenn sie für den Arbeitnehmer mindestens gleichwertig ist (Art. 324a Abs. 4 OR).
II. Normenhierarchie und Formerfordernisse
Das Bundesgericht setzt sich im vorliegenden Entscheid in unterschiedlicher Tiefe im Wesentlichen mit zwei Themenbereichen auseinander. Seine Ausführungen zu den Formerfordernissen unter Bezugnahme auf frühere Entscheide4 sind ebenso aufschlussreich wie diejenigen zur Normenhierarchie. Natürlich macht es auch die nötigen Ausführungen zu weiteren Voraussetzungen und zur Gleichwertigkeit von Versicherungslösungen (E. 2.2). Diese stehen nicht im Zentrum, weshalb nicht näher darauf eingegangen wird.
Das Bundesgericht stellt klar, dass grundsätzlich GAV-Bestimmungen einer einzelarbeitsvertraglichen Vereinbarung vorgehen, sofern sie den Anforderungen von Art. 324a Abs. 4 OR entsprechen. Voraussetzung ist, dass der GAV nicht bloss den sachlichen Anwendungsbereich und damit die Branche des Betriebes betrifft, sondern für die spezifische Arbeitgeberin auch Bindungswirkung entfaltet (Art. 356–358 OR). Dies ist, unter Annahme der vorhandenen Anknüpfungspunkte für den Anwendungsbereich, lediglich bei Mitgliedschaft von Arbeitnehmer und Arbeitgeber im vertragsschliessenden Verband bzw. durch Abschluss eines GAV zwischen der Gewerkschaft und dem spezifischen Arbeitgeber, durch Anschluss i.S.v. Art. 356b Abs. 1 OR oder bei allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsverträgen der Fall5. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass unter Anwendung des Günstigkeitsprinzips eine einzelarbeitsvertragliche Vereinbarung ausnahmsweise vorgehen könnte. Möglich ist auch, dass sich nichtbeteiligte Arbeitgeberin und Arbeitnehmer über die Übernahme der GAV-Bestimmungen oder auch bloss einzelner Passagen daraus, z.B. jene zur Krankentaggeldversicherung als integrierender Vertragsbestandteil, einigen6. Vorliegend waren einzelne Punkte im Arbeitsvertrag zur Lohnfortzahlung bei Krankheit erwähnt, die eine gewisse Ähnlichkeit mit den Bestimmungen von in der Branche geltenden Gesamtarbeitsverträgen aufweisen. Auf die Arbeitgeberin ist aber kein Gesamtarbeitsvertrag anwendbar (E. 2.2.2). Die blosse Ähnlichkeit mit gewissen GAV-Bestimmungen und dass diese der Arbeitgeberin bekannt sind, lassen noch nicht den Schluss zu, diese seien Vertragsbestandteil geworden (E. 3.2.2). Hierfür ist nach den allgemeinen Grundsätzen zumindest ein ausdrücklicher Verweis unter Beilegung der entsprechenden Bestimmungen oder deren ausdrückliche Erwähnung und Verschriftlichung im Einzelarbeitsvertrag zu fordern.
Das Bundesgericht setzt sich mit den Formerfordernissen für die Aufnahme von über Art. 324a Abs. 1 OR hinausgehende bzw. davon abweichende Vereinbarungen auseinander. Zunächst äussert es sich zu seinem schon mehrfach dargelegten Grundsatz, wonach eine Anpassung des Grundsachverhalts von Art. 324a Abs. 2 OR zugunsten des Arbeitnehmers nicht schriftlich zu erfolgen hat. Damit kann das Einsetzen der Leistung schon vor Ablauf der ersten drei Anstellungsmonate oder eine längere als von den Skalen vorgesehene Leistungsdauer gemeint sein. Soll hingegen die Leistungspflicht der Arbeitgeberin durch eine Krankentaggeldversicherung i.S.v. Art. 324a Abs. 4 OR abgelöst werden, ist Schriftlichkeit gefordert7. Das Bundesgericht verdeutlich in Anlehnung an seine frühere Rechtsprechung, dass damit die Unterzeichnung einer die wesentlichen Punkte wie Dauer, Höhe der Leistung, Karenzzeit sowie Verteilung der Prämienlast enthaltende Vereinbarung durch beide Parteien gemeint ist. Versäumt die Arbeitgeberin diesfalls den Abschluss eines Versicherungsvertrages ist sie durch eine derartige Vereinbarung gegenüber dem Arbeitnehmer trotzdem verpflichtet. Das Bundesgericht präzisiert sein Urteil 4A_517/2010 vom 11. November 2011, in welchem es das Erfordernis der Schriftform für den Abschluss der Krankentaggeldversicherung als nicht zwingend betrachtete, wenn diese Lösung für den Arbeitnehmer günstiger ist. Davon wendet sich das Bundesgericht im hier besprochenen Entscheid nicht gänzlich ab. Es kann jedoch der Schluss aus den Erwägungen gezogen werden, dass das Wegfallen des Schriftformerfordernisses grundsätzlich nicht ausgeschlossen ist, dass für das Vorliegen einer konkludent vereinbarten Lösung nach Art. 324a Abs. 4 OR jedoch weitere Indizien, wie die im vorliegenden Fall fehlenden Abzüge der Beiträge, nötig sind.
III. Schluss
Auffallend ist, dass das Bundesgericht, nachdem feststeht, dass die Krankentaggeldversicherung nicht in der Pflicht ist, kaum erläutert, unter welchen Umständen bei einer langandauernden Arbeitsunfähigkeit nach einem Unfall und nach Einstellung der Zahlungen durch die SUVA die Lohnfortzahlung bei Krankheit i.S.v. Art. 324a Abs. 1 OR zum Zuge kommt8. Damit die Lohnfortzahlung bei Krankheit zum Zuge kommen kann, ist vorauszusetzen, dass sich aus den Unfallfolgen eine Krankheit entwickelt hat oder anderweitig eine Krankheit besteht. Erläuternd ist in Erinnerung zu rufen, dass, im Gegensatz zur Situation bei den Sperrfristen für die Kündigung (Art. 336c OR), die Dauer der Arbeitsunfähigkeit aus unterschiedlichen Gründen im selben Dienstjahr an die vorhergehende Arbeitsunfähigkeit angerechnet wird, sie jedoch im neuen Dienstjahr neu zu laufen beginnt9.
Der vorliegende Entscheid zeigt einmal mehr, dass die unübersichtlichen Bestimmungen zur Lohnfortzahlung bei Krankheit in der Praxis zu Problemen führen. Diese Rechtsunsicherheit spiegelt sich auch im immer wieder aufflammenden Diskurs zur Einführung alternativer Modelle, wie beispielsweise einheitlicher Skalen auf Gesetzesstufe10, einer Angleichung an die Sperrfristen oder einer flächendeckenden Pflicht zur Krankentaggeldversicherung, wider11.
- 1. Genaueres zu dieser Voraussetzung, in: Pärli Kurt/ Hug Julia/ Petrik Andreas, Arbeit, Krankheit, Invalidität, Arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Aspekte, Bern 2015, S. 75; Streiff Ullin/von Kaenel Adrian/Rudolph Roger, Arbeitsvertrag, Praxiskommentar zu Art. 319-362 OR, 7. A., Zürich 2012, N 2 zu Art. 324a OR.
- 2. Dazu: Pärli/Hug/Petrik, S. 82, Streiff/von Kaenel/Rudolph, N 6 zu Art. 324a OR.
- 3. Wantz Simona/Licci Sara, Eine Versicherungslücke vermeiden, Personal Schweiz, 4/16, S. 16.
- 4. BGer Urteil 4A_98/2014 vom 10. Oktober 2010, Urteil 4A_517/2010 vom 11. November 2011.
- 5. BSK-Portmann/Rudolph, N 15ff. zu Art. 357 OR.
- 6. Beispiele von GAV-Bestimmungen zur Lohnfortzahlung, in: Wantz Simona/Licci Sara, Lohnfortzahlungen, Vorschriften in GAV, Personal Schweiz, 2/17, S. 16.
- 7. S.a. Wantz Simona/Licci Sara, Lohnfortzahlungen, Vorschriften in GAV, Personal Schweiz, 4/17, S. 17.
- 8. Zu Koordinationsfragen: Pärli/Hug/Petrik, S. 385ff.
- 9. Streiff/von Kaenel/Rudolph, N 8 zu Art. 324a OR, N 4 zu Art. 336c OR.
- 10. Zu den Fällen von Skalenabweichungen, Streiff/von Kaenel/Rudolph, N 7 zu Art. 324a OR.
- 11. Pärli/Hug/Petrik, S. 82; Streiff/von Kaenel/Rudolph, N 11 zu Art. 336c OR.