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Angehörigenpflege – Quo vadis?

Angehörigenpflege – Quo vadis?

Éclairages
Allgemeines Sozialversicherungsrecht (ATSG)

1. Einleitung

Gemäss Bundesamt für Statistik leisteten Angehörige im Jahr 2016 insgesamt 80 Millionen Stunden unbezahlte Arbeit für die Betreuung und Pflege nahestehender Personen. Diese Arbeit hat einen Wert von 3,7 Milliarden Franken. Aufgrund der demografischen Entwicklungen wird der Bedarf an Pflege und Betreuung zunehmen, der nicht alleine durch das Gesundheitswesen gedeckt werden kann. Der Mehrbedarf an Betreuung und Pflege wird kaum mit institutioneller und professioneller Pflege zu bewältigen sein, denn es stehen weder die notwendigen Fachpersonen noch die finanziellen Mittel zur Verfügung. Unter dem Aspekt einer nachhaltigen Finanzierung des Gesundheitswesens kann auf die Pflege und Betreuung pflegebedürftiger Personen durch informell pflegende Personen nicht verzichtet werden (vgl. Unterstützung für betreuende und pflegende Angehörige, Situationsanalyse und Handlungsbedarf für die Schweiz, Bericht des Bundesrates, Bern, 5. Dezember 2014, S. 4).

2. Das neue Bundesgesetz

Nachdem das Parlament dem Bundesrat in den letzten Jahren verschiedene Aufträge erteilt hat, die Rahmenbedingungen für betreuende und pflegende Angehörige zu verbessern, hat der Bundesrat den Bericht zur «Unterstützung für betreuende und pflegenden Angehörige» am 5. Dezember 2014 vorgelegt und den Aktionsplan zur «Unterstützung und Entlastung betreuender und pflegender Angehöriger» verabschiedet. Gestützt auf die im Aktionsplan vorgeschlagenen gesetzlichen Anpassungen wurde nun ein neues Bundesgesetz über die Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung vorgelegt. Am 22. Mai 2019 hatte der Bundesrat die Botschaft zum Bundesgesetz über die Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenpflege ans Parlament überwiesen. In der Schlussabstimmung der Session am 20. Dezember 2019 wurde der Mantelerlass mit 142 zu 55 Stimmen im Nationalrat und 42 zu 0 Stimmen im Ständerat mit zwei Enthaltungen verabschiedet.

3. Die einzelnen Änderungen

a) Im Obligationenrecht und Arbeitsgesetz

Im Obligationenrecht wurde ein neuer Art. 329g E-OR geschaffen, der die Lohnfortzahlung für die Betreuung von Familienmitgliedern sowie Lebenspartnerinnen und -partnern mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen während einer kurzzeitigen Abwesenheit von maximal drei Tagen regelt. Die Definition des Familienmitglieds leitet sich dabei aus Art. 29septies Abs. 1 AHVG für den Anspruch auf Betreuungsgutschriften ab. Die Dauer des Urlaubs beträgt drei Tage pro Ereignis und ist mit zehn Tagen pro Jahr nach oben begrenzt. Gemäss Botschaft bringt diese Regelung hauptsächlich zwei Verbesserungen: Einerseits wird ein Urlaub für die Pflege und Betreuung von Personen gewährt, gegenüber denen keine gesetzliche Unterhaltspflicht besteht, anderseits wird dieser Urlaub von drei Tagen nicht mehr an das Jahresguthaben nach Art. 324a E-OR angerechnet. Diese Änderung soll ausschliesslich für Arbeitsverhältnisse in der Privatwirtschaft gelten, womit folglich in erster Linie die Arbeitgeber und die betroffenen Personen zuständig sind.

Der geltende Art. 36 ArG wird ergänzt und der Urlaub analog der neuen Regelung des Art. 329g E-OR ausgeweitet. Vorgesehen ist ebenfalls ein dreitägiger Urlaub pro Ereignis für die Pflege und Betreuung von gesundheitlich beeinträchtigten Familienmitgliedern, mit einer Obergrenze von maximal zehn Tagen pro Jahr. Diese betrifft aber nicht die Kinder. Die Anpassungen im Arbeitsgesetz sind zur Koordination mit Art. 329g E-OR notwendig (vgl. zum Ganzen BBl 2019 4103, 4132 ff.).

b) Betreuungsentschädigung bei längeren Arbeitsabwesenheiten

Eltern von gesundheitlich schwer beeinträchtigten Kindern sollen neu Anspruch auf eine Erwerbsentschädigung haben, die im EOG geregelt werden soll. Diese Vorlage geht auf das Postulat Seydoux-Christe 09.4199 vom 10. Dezember 2009 zurück, das den Bundesrat beauftragte einen Bericht zu erstellen, wie das Sozialversicherungssystem ergänzt werden könnte, um Eltern von schwer kranken Kindern einen ausreichend langen bezahlten Urlaub zu ermöglichen. Mit der Vorlage soll ein entschädigter Urlaub zur Betreuung und Pflege durch Unfall oder Krankheit gesundheitlich schwer beeinträchtigter Kinder geschaffen werden. Der Zivilstand der Eltern ist unerheblich, massgebend ist das Kindesverhältnis nach Art. 252 ZGB. So wird die Gleichbehandlung aller Kinder (Art. 8 BV) gewährleistet.

Die Voraussetzungen im vorgesehenen Art. 16j E-EOG sind so allgemein gehalten, dass möglichst die ganze Bandbreite schwerer gesundheitlicher Beeinträchtigungen erfasst wird, jedoch Bagatellen davon ausgenommen sind. Der Anspruch auf die Leistung entsteht, wenn mindestens ein Elternteil in einem Arbeitsverhältnis steht oder selbständigerwerbend ist und die Erwerbstätigkeit unterbricht. Innerhalb einer Rahmenfrist von 18 Monaten soll ein Taggeld der EO für längstens 14 Wochen ausgerichtet werden, das tageweise oder am Stück bezogen werden kann. Das Taggeld soll 80% des vorangegangenen Lohnes betragen und durch einen Höchstbetrag beschränkt sein.

Während des Bezugs der Betreuungsentschädigung sollen keine Leistungen aus anderen Sozialversicherungen – mit Ausnahme der Mutterschaftsentschädigung und des Intensivpflegezuschlags der Invalidenversicherung – ausgerichtet werden. Auf die Betreuungsentschädigung sollen Beiträge für die AHV, IV, EO und ALV gemäss Art. 19a E-EOG erhoben werden. Eine Weiterversicherung in der Unfallversicherung und der beruflichen Vorsorge soll gewährleistet sein.

Aus koordinationsrechtlichen Gründen würde Art. 329h E-OR den Anspruch auf den Betreuungsurlaub regeln. Ebenfalls vorgesehen wäre ein Kündigungsschutz während der Dauer des Anspruchs, längstens aber während sechs Monaten (Art. 336c Abs. 1 lit. cbis E-OR).

Die Anmeldung des Anspruchs soll mittels Formular über den Arbeitgeber erfolgen, der die Glaubwürdigkeit des beizulegenden Arbeitszeugnisses über die Schwere der gesundheitlichen Beeinträchtigung beurteilt (vgl. zum Ganzen BBl 2019 4103, 4133 ff.).

c) Erweiterung der Betreuungsgutschriften

Gemäss Art. 29septies Abs. 1 AHVG haben pflegende und betreuende Angehörige Anspruch auf eine Betreuungsgutschrift, wenn die betreute Person Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung für mindestens mittlere Hilflosigkeit hat. Dieser Anspruch soll neu bereits bei leichter Hilflosigkeit gewährt werden. Ebenso sollen bezüglich des Anspruchs Paare in Lebensgemeinschaften verheirateten Paaren gleichgestellt werden. Um dies zu überprüfen, sollen die Ausgleichskassen Mietverträge oder Bestätigungen der Einwohnergemeinde verlangen können (vgl. zum Ganzen BBl 2019 4103, 4144 f.).

d) Hilflosenentschädigung und Intensivpflegezuschlag bei Spitalaufenthalt

Während eines Spitalaufenthalts von Kindern entfällt heute der Anspruch auf Hilflosenentschädigung und auf den Intensivpflegezuschlag tageweise, da man bei der Einführung der Ansprüche davon ausging, dass die betroffenen Kinder während eines Spitalaufenthalts keine Betreuung durch die Eltern benötigen, und man so eine doppelte Entschädigung verhindern wollte. Da nun aber der Anspruch auf eine Betreuungsentschädigung auch während eines Spitalaufenthalts bestehen soll, würde dies zu einem Widerspruch führen. Weil aber das Spital nicht in jedem Fall eine umfassende Betreuung sicherstellen kann und oft zusätzliche Kosten auf die Familien zukommen – wie etwa das Hüten und Betreuen weiterer (gesunder) Kinder – erachtete der Bundesrat diese Vorlage als eine gute Gelegenheit, die Situation von Eltern mit Kindern, die einen Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung oder einen Intensivpflegezuschlag haben, zu verbessern (vgl. zum Ganzen BBl 2019 4103, 4145).

4. Kritik an der Vorlage

Die Vorlage wurde von verschiedenen Seiten aus unterschiedlichen Gründen kritisiert: Die Gegner der Vorlage äusserten v.a. Bedenken im Hinblick auf die Kosten. Von Arbeitgeberseite wurde neben Bedenken im Hinblick auf einen allfälligen Kostenanstieg bei den KMU, die organisatorischen Schwierigkeiten bei der Überbrückung der Abwesenheiten genannt. Gerade bei KMU können längere Arbeitsabwesenheiten zum Problem werden.

Die Erweiterung der Betreuungsgutschriften sowie die Hilflosenentschädigung und der Intensivpflegezuschlag bei Spitalaufenthalt hingegen stiessen weitgehend auf Zustimmung.

Die Befürworter, v.a. Behindertenorganisationen, Entlastungsdienste u.ä., begrüssten die Vorlage und halten sie einstimmig für «einen Schritt in die richtige Richtung». Sie gehe aber viel zu wenig weit, denn die Vorlage fokussiere sich hauptsächlich auf die Pflege und Betreuung von Kindern und berücksichtigt weniger die Pflege und Betreuung von erwachsenen Personen. Aus Gründen der Gleichbehandlung sollten alle informell pflegenden Personen ungeachtet der Ursache der gesundheitlichen Einschränkung oder des Alters der gepflegten Person, von solchen Massnahmen profitieren können. Sie alle nähmen Aufgaben wahr, auf die die gepflegte Person unter Umständen einen sozialversicherungsrechtlichen Anspruch hätte. Deshalb sollten sich künftige Vorlagen nicht nur auf Personen, die Kinder pflegen beschränken, sondern auch Pflegende erfassen, die sich um Pflegebedürftige im Erwachsenenalter kümmern.

Zudem werden nur relativ kurze Arbeitsabwesenheiten überbrückt. Jeder Gesundheitsschaden zieht aber verschiedene Pflegephasen nach sich: Akut-, Übergangs- und Langzeitpflege, welche sich in zwei Phasen aufteilt. Diese Pflegephasen sind weder in Gesetz noch in der Rechtsprechung definiert. Deren Definition wurde vom SBK, dem Spitexverband Schweiz, CURAVIVA und H+ in einem gemeinsamen Standpunkt der Leistungserbringer erarbeitet.

Die Akutphase ist die zeitlich begrenzte Phase von 30–60 Tagen während einer akuten Krankheit oder nach einem Unfall. Übergangspflege ist die Phase nach der Akutpflege, in der der Patient keine Akutversorgung mehr benötigt, trotzdem aber noch Bedarf an pflegerisch-therapeutischen Massnahmen hat.  Bei der Langzeitpflege dauert die Phase 1 länger als 90 Tage, die Phase 2 länger als 365 Tage. Bei der Pflege von Langzeitpflegepatienten in der Pflegephase 2 sind die beschlossenen Massnahmen nicht ausreichend, denn sie sind alle zeitlich limitiert und bieten eigentlich nur Entlastungen in der Akut-, Übergangs- und Langzeitpflege der Phase 1. Zwar gibt es Langzeitpflegepatienten der Phase 2 in jedem Alter, doch sind es vor allem alte Menschen, bei denen keine Verbesserung des Gesundheitszustandes – meistens nur noch eine Verschlechterung – bis zum Tod erwartet werden kann. Man denke dabei z.B. an demente Personen.

Wie eingangs erwähnt wurde, ist zu erwarten, dass die Anzahl der langzeitpflegebedürftigen Personen in den nächsten 30 Jahren massiv steigen wird, während sich zeitgleich der Pflegekräftemangel verschärfen wird. Diese Lücke kann nicht ohne weiteres mit informell pflegenden Personen gefüllt werden, ohne weitergehende Massnahmen zu ergreifen. Gerade wenn es sich bei den informell pflegenden Personen um Personen im Erwerbsalter handelt, muss die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Pflege gewährleistet sein, denn stressbedingt sind informell pflegende Personen v.a. in akuten Betreuungsphasen selber dem Risiko der Verschlechterung ihrer gesundheitlichen Situation ausgesetzt, was sich wiederum negativ sowohl auf ihre Angehörigenbetreuung als auch auf ihrer Erwerbstätigkeit auswirkt. Werden informell pflegende Personen gezwungen ihre Erwerbstätigkeit zu reduzieren, um Pflege- und Betreuungsaufgaben zu übernehmen, verschärft sich nicht nur der Fachkräftemangel, sondern sie riskieren auch Lücken in ihrer eigenen sozialversicherungsrechtlichen Absicherung und sind später selber auf Bedarfsleistungen angewiesen. Es kommt also nicht zu Einsparungen, sondern lediglich zu einer Verlagerung im System.

Die Kritik, die z.T. aus der Wirtschaft an der Vorlage geübt wird, ist zwar nachvollziehbar, aber aus oben genannten Gründen nicht unbedingt weitsichtig. Im Hinblick auf den Fachkräftemangel ist es für die Wirtschaft wichtig, eine möglichst hohe Erwerbsbeteiligung zu wahren, weshalb es auch in ihrem Interesse liegt, für eine bessere Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und der Übernahme von Betreuungs- und Pflegeaufgaben zu sorgen. Von Bestrebungen, dass Arbeitnehmende, die Pflege- und Betreuungsaufgaben wahrnehmen, weiterhin im Erwerbsleben verbleiben können, profitiert letztendlich auch die Wirtschaft.

Aus diesen Gründen wären Massnahmen wünschenswert, welche das Problem bei der Wurzel packen und eine Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und informeller Pflege flächendeckend für alle Altersgruppen möglich machen.

5. Weitere Probleme

In der Schweiz «krankt» es aber rund um das Thema «Pflege» an verschiedenen Stellen, angefangen bei den fehlenden Definitionen und somit der rechtlichen Erfassung der verschiedenen Akteure im Bereich der (informellen) Pflege.

Was genau eine «pflegende Person» ist, ist rechtlich unklar: Eine einheitliche Definition der pflegenden Personen sucht man in den verschiedenen Sozialversicherungsgesetzen oder im ATSG vergeblich. Im KVG werden lediglich die Anforderungen umschrieben, welche die verschiedenen Pflegesubjekte erfüllen müssen, damit sie als Leistungserbringer anerkannt sind (Art. 35 ff. KVG) und ihre Leistungen zu Lasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung abrechnen können.

Weiter ist der Begriff des «Angehörigen» rechtlich diffus: Dem Angehörigen kommt in den bisherigen sozialversicherungsrechtlichen Erlassen keine eigenständige Bedeutung zu, jedoch knüpft das Sozialversicherungsrecht bestimmte Rechtsfolgen an den familienrechtlichen Status. Diese Orientierung des Sozialversicherungsrechts an durch das Familienrecht geformte Statusverhältnisse verringert die Gefahr des Rechtsmissbrauchs und bietet Rechtssicherheit; ausserdem können familiale Verhältnisse so durch registerlichen Eintrag einfach sichtbar gemacht werden.

Folglich muss bezüglich jeder sozialversicherungsrechtlichen Regelung geprüft werden, ob der familienrechtliche Status des fraglichen Angehörigen einen Anspruch auslöst oder nicht. Ist beispielsweise in Art. 23 AHVG von «Kindern» und «Ehegatten» die Rede, ist das Kindesverhältnis i.S.v. Art. 252 ff. ZGB bzw. die Ehe i.S.v. Art. 90 ff. ZGB massgebend oder aber beim invalidenversicherungsrechtlichen Assistenzbeitrag i.S.v. Art. 42quinquies lit. b IVG sind Ehegatten, eingetragene Partner und Verwandte in auf- und absteigender Linie des Gepflegten davon ausgeschlossen, nicht aber etwa Konkubinatspartner.

Punktuell geht das Sozialversicherungsrecht auch über den familienrechtlichen Status hinaus und stellt, wie zum Beispiel in Art. 24a AHVG, geschiedene Ehegatten den verheirateten gleich oder verlängert den Waisenrentenanspruch von sich in Ausbildung befindenden Personen bis zur Vollendung des 25. Altersjahrs gemäss Art. 25 Abs. 5 AHVG und gewährt auch diesen Personen Leistungen. Das Familienrecht bildet aber auch hier wieder Anknüpfungspunkt.

Mit der «Lebenspartnerschaft» wurde nun ein weiterer Status geschaffen. Es handelt sich hierbei also um eine weitere Kategorie von Personen, die unter Umständen Leistungen erhalten könnten, aber doch nicht Ehegatten im zivilrechtlichen Sinn gleichgestellt sind.

Auch sucht man vergeblich im Gesetz nach einer Definition der «Pflege»: Lediglich Art. 7 KLV enthält einen Leistungskatalog von Pflegehandlungen, welche von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung vergütet werden. Eine allgemeine Definition von «Pflege» gibt es aber nicht. Was unter den Begriff der «Angehörigenpflege» fällt, ist unklar. Ebenfalls ist unklar, was mit «Betreuung» genau gemeint ist. Auch der Begriff «Betreuung» ist unklar. Ist damit die Kategorie der Hilflosigkeit gemeint? Die Rechtsprechung hat diese alltäglichen Lebensverrichtungen in sechs Bereiche unterteilt (BGE 107 V 136 E. 1c):

  • Ankleiden/Auskleiden;
  • Aufstehen/Absitzen/Abliegen;
  • Essen;
  • Körperpflege;
  • Verrichten der Notdurft;
  • Fortbewegung im oder ausser Haus/Kontaktaufnahme.

Es fragt sich, ob nicht weitere Kategorien dazu gezählt werden sollten, wie haushalterische oder administrative Leistungen oder die Betreuung weiterer Familienmitglieder.

Unser soziales Pflegesicherungssystem ist geprägt von einem Neben- und Durcheinander verschiedener Pflegeleistungen von verschiedenen Sozialversicherungen. Das Sozialversicherungsrecht ist ein Rechtsgebiet, welches seit Beginn des 20. Jahrhunderts zuerst nur enge Kreise von Arbeitnehmenden erfasste. Im Laufe der Zeit kamen immer weitere Kreise bestimmter Personengruppen bzw. bestimmte soziale Risiken dazu. Dies resultierte in zahlreichen Doppelspurigkeiten, Lücken, Überversicherungen und Überschneidungen im Verfahrensrecht der einzelnen Versicherungen. Weil das Sozialversicherungsrecht so «organisch» gewachsen ist, hat sich ein regelrechter «Dschungel» an Leistungen gebildet, dessen Dickicht nicht leicht zu durchschauen ist. Pflegebedürftigkeit ist in leistungsrechtlicher Hinsicht kein eigenständiger Anknüpfungsbegriff und wird im «Schlepptau» von anderen sozialen Risiken (Invalidität, Alter, Unfall, Krankheit, Mutterschaft und Familienförderung) mitgeregelt.

Es fragt sich, ob es Sinn macht, weitere Leistungen zu schaffen, welche nicht gerade der Übersichtlichkeit dienen, oder ob es nicht besser wäre, das heutige unübersichtliche System einer umfassenden Therapie mit Namen «Pflegeversicherung» zu unterziehen.

iusNet AR-SVR 13.03.2020