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Wann gilt ein aussergewöhnliches Schreckereignis als Unfall?

Wann gilt ein aussergewöhnliches Schreckereignis als Unfall?

Kommentierung
Unfallversicherung

Wann gilt ein aussergewöhnliches Schreckereignis als Unfall?

I. Sachverhalt

Mit Urteil des Bundesgerichts 8C_609/2018 vom 5. Dezember 2018 rechtfertigt es sich, den Unfallbegriff bei aussergewöhnlichen Schreckereignissen in Erinnerung zu rufen.

Im vorliegenden Fall erlebte die unfallversicherte Person, ein junger Erwachsener, das Attentat in Nizza am 14. Juli 2016 mit. Der Versicherte machte geltend, dass er seither an Schlafstörungen und Panikattacken leide. Die Unfallversicherung klärte den Sachverhalt ab, indem sie sich vom Versicherten das Ereignis detailliert schildern liess und einen Bericht einer Psychologin einholte. Verfügungsweise lehnte die Suva ihre Leistungspflicht ab, da kein Unfall im Rechtssinne vorliege. Daran hielt sie auch auf Einsprache hin fest. Das Bundesgericht bestätigt den Einspracheentscheid der Suva und weist die Beschwerde des Versicherten ab.

II. Zusammenfassung des Urteils des Bundesgerichts

Das Bundesgericht hält zu Beginn die Strukturelemente des Unfalls fest, dabei ist ein Unfall die plötzliche, nicht beabsichtigte schädigende Einwirkung eines ungewöhnlichen äussern Faktors auf den menschlichen Körper, die eine Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit oder den Tod zur Folge hat (vgl. Art. 4 ATSG).

Das Bundesgericht erinnert in Erwägung 2.2 daran, dass die Rechtsprechung und die Lehre schreckbedingte plötzliche Einflüsse auf die Psyche seit jeher als Einwirkung auf den menschlichen Körper anerkennen (im Sinne des geltenden Unfallbegriffes). Danach setzt die Annahme eines Unfalles voraus, dass es sich um ein aussergewöhnliches Schreckereignis, verbunden mit einem entsprechenden psychischen Schock, handelt. Die seelische Einwirkung muss durch einen gewaltsamen, in der unmittelbaren Gegenwart des Versicherten sich abspielenden Vorfall ausgelöst werden und in ihrer überraschenden Heftigkeit geeignet sein, typische Angst- und Schrecksymptome (wie Lähmungen, Herzschlag etc.) hervorzurufen.

Die Schreckereignisse müssen aber nicht unbedingt geeignet sein, die psychische Gesundheit eines gesunden Menschen zu beeinträchtigen, sondern in diesem Zusammenhang könne – laut Bundesgericht – ebenfalls auf eine «weite Bandbreite» von Versicherten abgestellt werden. Wie diese Bandbreite abzustecken ist, lässt sich einem früheren Leitentscheid entnehmen (vgl. BGE 129 V 177 E. 3.3 S. 182), wonach auch jene Versicherte angehören, die aufgrund ihrer Veranlagung für psychische Störungen anfälliger sind und einen Unfall seelisch weniger gut verkraften als Gesunde (beispielsweise bei ungünstiger konstitutioneller Prädisposition oder allgemein ein angeschlagener Gesundheitszustand). Das Bundesgericht relativiert sogleich diese weitgefasste Bandbreite dadurch, dass sich «das Begriffsmerkmal der Ungewöhnlichkeit definitionsgemäss nicht auf die Wirkung des äusseren Faktors, sondern nur auf diesen selber bezieht, weshalb nicht von Belang sein könne, wenn der äussere Faktor allenfalls schwerwiegende, unerwartete Folgen nach sich zog» (vgl. E. 2.2 [mit Verweis auf BGE 129 V 177 E. 2.1 S. 179]).

Das Bundesgericht bestätigt im Weiteren seine strenge Handhabe bzgl. des Beweises der Tatsachen, die das Schreckereignis ausgelöst haben, an die Aussergewöhnlichkeit dieses Ereignisses sowie den entsprechenden psychischen Schock (vgl. das Urteil des Bundesgerichts 8C_341/2008 vom 25. September 2008, E. 2.3, erster Satz, wonach an den adäquaten Kausalzusammenhang zwischen Schreckereignissen und den nachfolgenden psychischen Beschwerden hohe Anforderungen gestellt werden).

Zwischen den Parteien unbestritten war, dass es sich beim auslösenden Vorfall, dem Attentat in Nizza vom 14. Juli 2016, um ein aussergewöhnliches schreckliches Ereignis gehandelt habe. Uneinig waren sich die Parteien hingegen, ob sich die gewaltsamen Ereignisse in unmittelbarer Gegenwart des Versicherten abgespielt hätten. Nach Schilderung des Beschwerdeführers habe sich das Attentat in der Nähe, nicht aber in der unmittelbaren Gegenwart des Versicherten abgespielt. Er habe dieses nicht direkt miterlebt und sei nie in wirklicher Gefahr gewesen. Vielmehr bemerkte er lediglich, dass etwas vorgefallen sein musste, als Menschen am Strand auf den Beachclub, vor welchem sich der Versicherte befand, zurannten und wild durcheinander riefen. Erst auf Aufforderung Dritter hin begab er sich ins Innere des Beachclubs, wo er sich während rund zwei Stunden aufhielt. Weitere Wahrnehmungen werden gemäss Ausführungen im angefochtenen Entscheid für diese Zeit nicht geschildert. Aus eigenem Entschluss hätten sich der Beschwerdeführer und seine Freundin dann über die Promenade in Richtung Parkhaus begeben. Bei einem Hotel seien sie von der Polizei gebeten worden, sich ins Innere zu begeben und auf weitere Anweisungen zu warten. Sie hätten dort mehrere Stunden warten müssen.

Der Beschwerdeführer monierte, dass sich das Kantonsgericht Basel-Landschaft zu wenig mit seiner Wahrnehmung auseinandergesetzt habe. Er habe stundenlang in Todesangst unter ebenfalls verängstigten Menschen ausharren müssen, wobei über die effektive Bedrohung völlige Ungewissheit geherrscht habe. Insbesondere sei er durch die mehr als vier Stunden erlebte Todesangst, Hilflosigkeit und Ohnmacht traumatisiert worden.

Trotz dieser abstrakten Gefährdung bzw. diesem subjektiven Angstempfinden teilt das Bundesgericht die Ansicht der Vorinstanz, wonach der Versicherte zu keinem Zeitpunkt einer konkreten Gefährdung ausgesetzt war. Seine verständliche Angst, es könnte etwas geschehen, vermag nach Ansicht des Bundesgerichts die für die Erfüllung des Unfallbegriffs notwendige Voraussetzung, dass sich der gewaltsame Vorfall in unmittelbarer Gegenwart des Versicherten abgespielt haben muss, nicht zu ersetzen. Laut Bundesgericht ändert daran auch der Umstand nichts, dass der Versicherte aufgefordert wurde, sich im Anschluss an das Attentat während mehrerer Stunden in einem Hotel aufhalten zu müssen (vgl. E. 3.3.2).

Selbst wenn das Bundesgericht eine konkrete Gefährdung bejaht hätte, so scheiterte das vorliegende Ereignis an dem Kriterium der «Plötzlichkeit». Gerade das Erfordernis der «Plötzlichkeit» ist bei Schreckereignissen besonders zu beachten. Es ist laut Bundesgericht kaum mit dem Unfallbegriff nach Art. 4 ATSG vereinbar, wenn ein Schreckereignis erst nach einem gewissen Zeitablauf zu bejahen wäre, weil erst dann die Intensität der Einwirkung des äusseren Faktors ein Mass erreicht hat, welches den erlittenen psychischen Schock als ausserordentlich erscheinen liesse. Ein Schreckereignis als Unfall kann daher nur vorliegen, wenn es bereits nach relativ kurzer Zeit die erforderliche Intensität erreichte (vgl. André Nabold, in: Kommentar zum schweizerischen Sozialversicherungsrecht, UVG, 2018, Art. 6 N. 17 und 18).

III. Kommentar

In der vorliegenden Konstellation wäre eine Auseinandersetzung bezüglich der Frage, wann eine abstrakte Gefährdung zu einer konkreten (und somit unfallversicherungsrechtlich relevanten) Gefährdung mutiert, wünschenswert gewesen. Meiner Ansicht nach geht es hierbei letztlich um die Frage der erforderlichen räumlich-persönlichen Nähe der versicherten Person zum Schreckereignis.

Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat doch immerhin bei einer versicherten Person, welche sich beim Seebeben vom 26. Dezember 2004 in Thailand aufgehalten, aber die eigentliche Flutwelle des Tsunamis nicht selber gesehen hat, ein Schreckereignis bejaht (vgl. Eidgenössisches Versicherungsgericht U 548/06 vom 11. Mai 2007 E. 4.3.; vgl. auch E. 3.3.4 mit weiteren Hinweisen).

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass ausserordentliche Schreckereignisse durch einen gewaltsamen, in der unmittelbaren Gegenwart des Versicherten sich abspielenden Vorfall ausgelöst werden. Die seelische Einwirkung ist dabei überraschend und heftig. An den adäquaten Kausalzusammenhang zwischen Schreckereignissen und den nachfolgenden psychischen Beschwerden werden rechtsprechungsgemäss hohe Anforderungen gestellt.

Bei den Strukturelementen des Unfallbegriffs stellt das Bundesgericht bei der Ungewöhnlichkeit nicht auf die Wirkung des äusseren Faktors, sondern auf den äusseren Faktor der als solcher ungewöhnlich ist, ab. Weiter entscheidend ist gerade nicht das subjektive Angstempfinden der versicherten Person, sondern vielmehr die tatsächliche bzw. konkrete Gefährdungslage. Als Vergleichsgrössen sind nicht bloss psychisch gesunde Menschen heranzuziehen, sondern eine weitgefasste Bandbreite (auch wenn mit Relativierungen). Schliesslich ist das Kriterium der Plötzlichkeit bei Schreckereignissen besonders zu beachten. Ein Schreckereignis als Unfall kann nur vorliegen, wenn es bereits nach relativ kurzer Zeit die erforderliche Intensität erreicht, ansonsten ein Schreckereignis bei einem längeren Zeitablauf mit dem Erfordernis der Plötzlichkeit unvereinbar wäre. Somit liegen die Anforderungen an ein aussergewöhnliches Schreckereignis und damit an den gesetzlichen Unfallbegriff sehr hoch.

iusnet AR-SVR 26.04.2019