Langjähriger Rentenbezug und Indikatorenprüfung nach BGE 141 V 281
Langjähriger Rentenbezug und Indikatorenprüfung nach BGE 141 V 281
Langjähriger Rentenbezug und Indikatorenprüfung nach BGE 141 V 281
I. Blick auf die bisherige Praxis
Dem Urteil 8C_237/2014 vom 21. Januar 2015 lag eine gesundheitliche Verschlechterung zugrunde. Infolge dieser war eine versicherungsmedizinische Einschätzung der Arbeitsfähigkeit eingeholt werden. Diese kam zum Ergebnis, dass sich die Arbeitsfähigkeit verbessert hatte. In der Folge schützte das Bundesgericht eine revisionsweise Aufhebung einer IV-Rente aufgrund eines klar objektiv verschlechterten Gesundheitszustands. Dem Urteil ist seitens der Lehre Kritik erwachsen.1
Ebenfalls streng scheint die bundesgerichtliche Beurteilung der Versicherten im Urteil 9C_506/2016 vom 27. Oktober 2016: Zwar hatte der medizinische Experte eine relevante gesundheitliche Verbesserung verneint. Weil aber neue, zusätzliche Diagnosen hinzukamen, erlaubte die im Revisionszeitpunkt neue versicherungsmedizinische Beurteilung gleichwohl eine revisionsweise Rentenaufhebung.2
Diese zwei Urteile zeigen, dass das Bundesgericht bei einer hinzutretenden neuen Diagnose auch nach mehr als einem Jahrzehnt Rentenleistungen eine Revision mit Rentenherabsetzung oder -aufhebung unter Anwendung der neuen Überwindbarkeitspraxis gestattet. Bei dieser "allseitigen" Prüfung darf der Rentenanspruch umfassend geprüft werden, ohne Bindung an frühere Beurteilungen.3
II. Langjähriger Rentenbezug und Indikatorenprüfung (BGE 141 V 281)
Das vorliegend besprochene Urteil bildet dazu quasi einen Gegenpol: Das Bundesgericht würdigt den vorgängig langjährigen Rentenbezug mit Ausgliederung vom Arbeitsmarkt, indem es die Adäquanzkriterien "erhebliche Beschwerden" sowie "erhebliche Arbeitsunfähigkeit trotz ausgewiesener Anstrengungen" als erfüllt betrachtet. Dies überzeugt, zumal die langjährige Rentenausrichtung ohne erhebliche Beschwerden und ohne erhebliche Arbeitsunfähigkeit nicht erfolgt wäre.
Sodann gewinnt man in der Praxis als Vertreter von Versicherten den Eindruck, dass diese bei einer Rentenaufhebung nach mehr als einem Jahrzehnt Rentenbezug praktisch nicht mehr eingliederbar sind. Sie scheinen vielmehr oft von der IV in der Sozialhilfe zu landen.4 Man darf daher gespannt sein, wie der langjährige Rentenbezug im Rahmen der Indikatorenprüfung von BGE 141 V 281 beurteilt wird:
- Insbesondere zu prüfen sein wird, ob dieser die Anerkennung ausgeprägter diagnoserelevanter Befunde impliziert.5
- Sodann könnte die langjährige Ausrichtung der Rente auch auf eine Chronifizierung und auf ein langes Krankheitsgeschehen schliessen lassen. Dies wiederum könnte indizieren, dass Eingliederungs- und Integrationsmassnahmen obsolet sind, d.h. der Indikator der Behandlungs- und Eingliederungsresistenz erfüllt ist.6
- Fraglich scheint sodann, ob eine fehlende Inanspruchnahme therapeutischer Optionen während des Rentenbezugs gegen den Indikator "behandlungs- und eingliederungsanamnestischer Leidensdruck" spricht:7 Ist der Abschluss der vorübergehenden Leistungen (= Taggeld der Unfallversicherung) erfolgt, weil von der Fortsetzung der ärztlichen Behandlung keine namhafte Besserung im Sinne von Art. 19 Abs. 1 UVG mehr erwartet werden konnte, und sind andererseits die Voraussetzungen von Art. 21 Abs. 1 UVG nicht erfüllt, hat die obligatorische Krankenpflegeversicherung für die notwendige Heilbehandlung aufzukommen.8 Ist von der Fortsetzung der ärztlichen Behandlung keine namhafte Besserung des Gesundheitszustands (primär Verbesserung der Arbeitsfähigkeit9) mehr zu erwarten, endet der Anspruch auf Kostenübernahme der Heilbehandlung durch die Unfallversicherung.10 Entsprechend war hier bei der Berentung im Jahr 1998 nicht mehr die Unfallversicherung für die Heilbehandlung zuständig, sondern die Krankenversicherung - mit Kosten für Selbstbehalt und Franchise. Es ist fraglich, ob eine allenfalls fehlende oder ungenügende Behandlung, z.B. mangels finanzieller Ressourcen oder infolge sparsamer Lebenshaltung, gegen das Erfüllen des Indikators sprechen kann.
III. Lange Verfahrensdauer und vorläufiger Rentenentzug
Problematisch erscheint die Dauer des ganzen Verfahrens: Vorliegend wurde die Rente 2013 revisionsweise aufgehoben. Der Rechtsmittelweg dauerte bis 2017. Nach einem Zwischensieg für die Versicherte geht es nun wie beim "Leiterli-Spiel" zurück auf Feld 1, nochmals an den Start des Verwaltungsverfahrens. Potenziell steht damit ein weiteres halbes Jahrzehnt rechtliche Auseinandersetzung bevor, ohne Rechtssicherheit bezüglich der streitigen Rente.
Dies erscheint aus einem weiteren Grund unbefriedigend: In BGE 129 V 370 bestätigte das Bundesgericht seine Rechtsprechung gemäss BGE 106 V 18: Danach dauert der mit der revisionsweise verfügten Herabsetzung oder Aufhebung einer Rente verbundene Entzug der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde bei Rückweisung der Sache an die Verwaltung auch für den Zeitraum dieses Abklärungsverfahrens bis zum Erlass der neuen Verwaltungsverfügung an. Vorliegend resultiert aus dieser Rechtsprechung, dass die Versicherung potenziell während fast eines Jahrzehnts trotz "aufgehobener Aufhebungsverfügung" bis auf weiteres keine Leistungen mehr ausrichten muss. Es ist für die Betroffene eher schwer verständlich, wie dieses Resultat sachlich befriedigend ist und ihr daraus dank Verzugszins letztlich kein Schaden entsteht.11
- 1. SZS 05/2015, S. 473 ff.
- 2. Urteil des Bundesgerichts 9C_506/2016 vom 27. Oktober 2016 E. 4.2.2.
- 3. Vgl. BGE 141 V 9 E. 2.3 S. 11 mit Hinweisen.
- 4. ivinfo.wordpress.com/tag/sozialhilfe.
- 5. Komplex "Gesundheitsschädigung", BGE 141 V 281 E. 4.3.1.1 S. 298 f.
- 6. Komplex "Gesundheitsschädigung", BGE 141 V 281 E. 4.3.1.2 S. 299 f.
- 7. Kategorie "Konsistenz", BGE 141 V 281 E. 4.4 S. 303 ff.
- 8. Urteil des Bundesgerichts 8C_191/2011 vom 16. September 2011 E. 5.1 mit Verweis auf BGE 134 V 109 E. 4.2 S. 115.
- 9. BGE 134 V 109 E. 4.3 S. 115.
- 10. Alexandra Rumo-Jungo, Bundesgesetz über die Unfallversicherung, 4. Auflage, Zürich 2012, S. 101.
- 11. BGE 129 V 370 E. 4.3 S. 375 f.