IV-Gutachten: Qualitätssicherung durch Transparenz
IV-Gutachten: Qualitätssicherung durch Transparenz
IV-Gutachten: Qualitätssicherung durch Transparenz
In ihren Urteilen 1C_461/2017 und 1C_467/2017 vom 27. Juni 2018 anerkennt die I. öffentlich-rechtliche Abteilung des Bundesgerichts gestützt auf ein (weit gefasstes) kantonales Öffentlichkeitsgesetz ein schutzwürdiges Interesse einer versicherten Person an der Einsichtnahme in statistische Daten über die von IV-Gutachtern ausgewiesenen Arbeitsunfähigkeiten.1 In diesem Zusammenhang äussert das Bundesgericht gegenüber den IV-Behörden eine vorsichtig formulierte Empfehlung, künftig Statistiken über die attestierten Arbeitsunfähigkeiten zu führen. Im Wortlaut: «Unter Umständen kann es sich dann doch rechtfertigen, künftig eine entsprechende Statistik zu führen, selbst wenn es auf die Erstellung einer solchen grundsätzlich keinen individuellen Anspruch gibt.»2
Diese Empfehlung verdient uneingeschränkt Zustimmung, weist aber auch auf ein bisher eher vernachlässigtes Element der aufsichtsmässigen Qualitätssicherung von medizinischen Gutachten hin.3 Zweifellos geben Angaben über die von Gutachtern attestierten Arbeitsunfähigkeiten einen wertvollen Aufschluss über die gutachterliche Tätigkeit. Dasselbe gilt etwa für Angaben darüber, ob die Gerichte in Beschwerdeverfahren auf die Gutachten abstellen oder nicht. Entsprechende Erhebungen werden aber von der Aufsichtsbehörde, dem Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV), nicht (mehr) durchgeführt. Das BSV präsentiert zwar mit dem sog «SuisseMED@P Reporting» im Bereich der polydisziplinären MEDAS-Gutachten eine nach eigenem Bekunden «umfassende Berichterstattung über die Zuteilung der einzelnen Aufträge der IV sowie über die einzelnen Gutachterstellen».4 Damit werde - so das BSV weiter - «im Gutachterwesen eine bisher nicht gekannte Transparenz hergestellt, die ein weiteres Element in der Sicherstellung eines rechtsstaatlichen Verfahrens bildet».5 Umso überraschender ist, dass auf die Erhebung der vorerwähnten Angaben über die attestierten Arbeitsunfähigkeiten dennoch verzichtet wird. Einzig für das Reporting 2014 hat das BSV die Gutachterstellen «im Sinne einer möglichst grossen Transparenz»6 gebeten, auch die attestierten Arbeitsfähigkeiten auszuweisen - eine Bitte, der nur rund die Hälfte der Gutachterstellen nachgekommen ist.7Ausschliesslich die MEDAS Zentralschweiz hat in den Folgejahren 2015 und 2016 noch Angaben zu den attestierten Arbeitsunfähigkeiten offengelegt. Im aktuellen Reporting 2017 fehlen sie völlig.
Es verbietet sich, über die Motive des BSV für die Zurückhaltung beim Erheben dieser Daten zu spekulieren. Die Folgen dieser Zurückhaltung sind jedoch erheblich: Für eine griffige aufsichtsmässige Qualitätssicherung fehlen bereits die (Daten-)Grundlagen. Auch kann ein auf das Öffentlichkeitsgesetz8 gestütztes Gesuch von vornherein keinen Erfolg haben, wenn das BSV die gewünschten Auskünfte mangels (Daten-)Grundlagen gar nicht erteilen kann. Neben der aufsichtsmässigen Kontrolle wird also auch die Kontrolle durch die Öffentlichkeit verunmöglicht. Und schliesslich wird selbst einer gerichtlichen Kontrolle ein wirksamer Riegel geschoben, da zur Beurteilung der Unbefangenheit der Gutachter die notwendigen (Daten-)Grundlagen fehlen.9 In diesem Sinne ist falsch verstandene «Datensparsamkeit» ein wirksamer Hebel zum Ausschluss einer Qualitätskontrolle durch Aufsicht, Öffentlichkeit und Justiz. Im Ergebnis gilt weiter, was das Bundesgericht bereits 2011 festgestellt hat: «Diese behördliche Zurückhaltung ist nur schwerlich vereinbar mit Art. 64 Abs. 1 IVG (i.V.m. Art. 72 AHVG), wonach die (...) Aufsicht des Bundes, wahrgenommen durch das Bundesamt, in ihrem unverzichtbaren Kerngehalt darin besteht, für die einheitliche Anwendung des IVG zu sorgen.»10
In seinen jüngsten Entscheiden hat die I. öffentlich-rechtliche Abteilung des Bundesgerichts nun immerhin den Weg über die kantonalen Öffentlichkeitsgesetze für die versicherte Person vorsichtig geöffnet. Dieser Weg würde gestärkt, wenn die kantonalen IV-Stellen die bundesgerichtlichen Empfehlungen zum Führen von Statistiken über die attestierten Arbeitsunfähigkeiten aufnehmen würden; Aufwand und Hürden für Einsichtsgesuche würden damit gesenkt. Weitergehend würden Transparenz und Qualitätssicherung medizinischer IV-Gutachten schweizweit gesteigert, wenn das BSV seinen Worten Taten folgen lassen würde. Dazu gehört ganz entscheidend, dass die zur Qualitätsbeurteilung notwendigen Daten - darunter diejenigen zu den attestierten Arbeitsunfähigkeiten - erhoben und ausgewertet werden. Die damit einhergehende Transparenz wäre tatsächlich «ein weiteres Element in der Sicherstellung eines rechtsstaatlichen Verfahrens».11 In diesem Sinne nehmen die hier besprochenen Urteile in wertvoller Weise die Grundanliegen von BGE 137 V 210 auf und konkretisieren sie mit der eingangs erwähnten Empfehlung: «Unter Umständen kann es sich dann doch rechtfertigen, künftig eine entsprechende Statistik zu führen, selbst wenn es auf die Erstellung einer solchen grundsätzlich keinen individuellen Anspruch gibt.»12
- 1. Vgl. dazu näher den Rechtsprechungsbeitrag auf iusNet.
- 2. BGer-Urteil 1C_461/2017 vom 27. Juni 2018 E. 8.7, zur Publikation vorgesehen.
- 3. Zu deren Bedeutung vgl. BGE 137 V 210 E. 3.4.2.5 S. 255; Philipp Egli, Qualitätssicherung medizinischer Gutachten - "ideal, aber nicht zwingend"?, in: U. Kieser/M. Lendfers (Hrsg.), Jahrbuch zum Sozialversicherungsrecht 2018, Zürich/St. Gallen 2018, 147 ff.
- 4. So jüngst BSV, SuisseMED@P Reporting 2017, Teil 1, S. 2.
- 5. BSV, a.a.O.
- 6. So BSV, SuisseMED@P Reporting 2014, Teil 1, S. 10.
- 7. Vgl. BGer-Urteil 9C_19/2017 vom 30. März 2017 E. 5.1.
- 8. SR 152.3
- 9. Ein Anwendungsfall: BGer-Urteil 9C_19/2017 vom 30. März 2017 E. 5.1.
- 10. BGE 137 V 210 E. 3.4.2.5 S. 255.
- 11. Siehe oben Fn. 4.
- 12. BGer-Urteil 1C_461/2017 vom 27. Juni 2018 E. 8.7, zur Publikation vorgesehen.