Rechtsprechungsänderung zur Invalidisierung von Suchtkrankheiten als Revisionsgrund
Rechtsprechungsänderung zur Invalidisierung von Suchtkrankheiten als Revisionsgrund
Rechtsprechungsänderung zur Invalidisierung von Suchtkrankheiten als Revisionsgrund
Zum Urteil des Versicherungsgerichts Solothurn vom 9.7.2020 (VSBES.2019.269)
Sachverhalt
Im Urteil des Versicherungsgerichts Solothurn ging es um die Revision in einer IV-Sache: Die IV hatte im Herbst 2018 eine Suchtkrankheit als nicht invalidisierend beurteilt und ein Leistungsbegehren abgewiesen. Im Sommer 2019 änderte das Bundesgericht seine Rechtsprechung: Gemäss BGE 145 V 215 gelten Suchtkrankheiten nicht in jedem Fall als überwindbar (und damit als nicht invalidisierend): Vielmehr können primäre Abhängigkeitssyndrome bzw. Substanzkonsumstörungen invalidenversicherungsrechtlich relevante Gesundheitsschäden darstellen, wenn sich nach Durchführung eines strukturierten Beweisverfahren ergibt, dass sich ein fachärztlich diagnostiziertes Abhängigkeitssyndrom im Einzelfall auf die Arbeitsfähigkeit auswirkt.
Gestützt auf diese Rechtsprechungsänderung verlangte der Beschwerdeführer im Herbst 2019 eine Revision des rechtskräftigen negativen IV-Entscheids vom Oktober 2018 und beantragte gesetzliche Leistungen für seine Suchtkrankheit (Drogen und Alkohol).
Die IV trat auf das Revisionsgesuch mangels erheblicher Tatsachenänderung nicht ein. Dagegen erhob der Versicherte Beschwerde, welche das kantonale Gericht gutheisst.
Erwägungen
Eine erhebliche Tatsachenänderung ist nicht glaubhaft gemacht. Allerdings stellt sich die Frage, ob die "neue Sucht-Rechtsprechung" unter dem Titel einer Änderung der Rechtslage zu einer Neubeurteilung berechtige (E. 6.2). In der Regel bildet eine geänderte Gerichts- oder Verwaltungspraxis keinen Anlass, in eine laufende, auf einer formell rechtskräftigen Verfügung beruhende Dauerleistung einzugreifen. Eine rechtskräftige Verfügung über eine Dauerleistung ist nur ausnahmsweise zu Ungunsten der versicherten Person an eine geänderte Gerichtspraxis anzupassen. Eine Ausnahme setzt zunächst voraus, dass die neue Praxis eine allgemeine Verbreitung erfährt. Zusätzlich müssen qualifizierende Elemente gegeben sein, welche die Nichtanwendung der neuen Praxis auf laufende Leistungen unter dem Aspekt der Rechtsgleichheit als stossend erscheinen liessen. Ein derartiges Element liegt vor, wenn die frühere Praxis nur noch auf einige wenige Personen Anwendung findet, so dass diese als privilegiert (oder diskriminiert) erscheinen, sowie wenn sich die damalige Leistungszusprechung aus der Sicht der neuen Praxis schlechterdings nicht mehr vertreten lässt (BGE 141 V 585 E. 5.2 S. 587, BGE 135 V 201 E. 6.4 S. 210 f.). Die Rechtsprechung durchbricht den Grundsatz, wonach eine Praxisänderung keine Änderung formell rechtskräftiger Verfügungen über eine Dauerleistung rechtfertigt, kaum je in Bezug auf Anpassungen zu Ungunsten der Versicherten (E. 8.1). BGE 145 V 215 ist eine prinzipielle Neuausrichtung in Bezug auf Suchterkrankungen und eine vollständige Abkehr von der früheren Rechtsprechung. Reine Suchtleiden wurden bis Mitte 2019 von vornherein als nicht invaliditätsbegründend betrachtet, was im vorliegenden Fall zur Verneinung eines Leistungsanspruchs durch die Verfügung vom Oktober 2018 führte, während nunmehr nachvollziehbar diagnostizierte Abhängigkeitssyndrome bzw. Substanzkonsumstörungen grundsätzlich als invalidenversicherungsrechtlich beachtliche (psychische) Gesundheitsschäden in Betracht fallen. Darin liegt eine vollständige Kehrtwende gegenüber der früheren, als korrekturwürdig erkannten Praxis. Personen, welche unter einem primären Abhängigkeitssyndrom leiden, haben nun erstmals Aussicht auf eine Rentenleistung. Es würde zu einer nicht hinnehmbaren Diskriminierung führen, wenn denjenigen Versicherten, deren Leistungsgesuche unter der früheren Praxis abgelehnt wurden, jetzt und für alle Zukunft die Möglichkeit verwehrt bliebe, ihren Anspruch unter der neuen Rechtsprechung überprüfen zu lassen. Dies wird im hier zu beurteilenden Fall besonders deutlich: Wäre der Anspruch des 1984 geborenen Beschwerdeführers nicht im Oktober 2018, sondern zehn Monate später beurteilt worden, hätte er reelle Aussichten auf Leistungen gehabt. Demgegenüber bliebe ihm ein solcher nun – vorbehältlich einer anderweitigen Veränderung des anspruchsrelevanten Sachverhalts – bis zum Erreichen des AHV-Rentenalters (gemäss heutiger Regelung im Jahr 2049) verwehrt, wenn die Beschwerdegegnerin eine Neuüberprüfung ablehnt. Diese offensichtlich stossende Konsequenz gilt es zu vermeiden (E. 8.3). Daher ist die Frage, ob die mit BGE 145 V 215 erfolgte Rechtsprechungsänderung einen Grund für eine Neuanmeldung unter dem Aspekt einer Veränderung der Rechtslage bilde, zu bejahen (E. 8.4). Die nach der Praxisänderung erfolgte Neuanmeldung ist daher zu prüfen, wozu der Nichteintretensentscheid aufzuheben und der Fall an die Beschwerdegegnerin zum Eintreten und materiellen Prüfen zurückzuweisen ist (E. 9).
Kommentar
Das Versicherungsgericht Solothurn verweist überzeugend auf die Grundsätzlichkeit der Rechtsprechungsänderung von BGE 145 V 215: Diese sei durchaus vergleichbar mit anderen Praxisänderungen, die ebenfalls eine Anpassung einer rechtskräftigen Verfügung über eine Dauerleistung an eine zwischenzeitlich geänderte, für die betroffene Person günstigere Gerichts- oder Verwaltungspraxis zuliessen. So hielt das Bundesgericht in BGE 121 V 157 E. 4c S. 162 f. fest, eine unter einer früheren Gerichtspraxis festgelegte Erwerbsunfähigkeitsrente der Militärversicherung sei an die im Jahr 1984 geänderte Praxis anzupassen, welche die kumulative Entschädigung von Erwerbsunfähigkeit und Integritätsverlust zulässt. Die gegenteilige Lösung schaffe krasse Ungleichheiten. Ebenfalls bejaht wurde die Anwendbarkeit einer neuen Verwaltungspraxis, welche in bestimmten Fällen einen zuvor nicht anerkannten Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung entstehen liess, auf bereits rechtskräftig entschiedene Fälle (SVR 2001 IV Nr. 4 S. 9, C222/99 E. 4). Im gleichen Sinne entschied das Gericht im Zusammenhang mit der zunächst verneinten, später jedoch bejahten (BGE 119 V 171) unmittelbaren Anwendbarkeit der internationalrechtlichen Bestimmungen über die eingeschränkte Zulässigkeit einer Leistungskürzung wegen Selbstverschuldens (BGE 135 V 201 E. 6.1.2.1 S. 206 mit Hinweisen auf: BGE 120 V 128 E. 4 S. 132 f., BGE 119 V 410 E. 3c S. 413 f.; SVR 1995 IV Nr. 60 S. 171 und 173, I 382/94 E. 4). Hier wie dort erscheine eine Leistungsverweigerung, welche unter der früheren Praxis erfolgte, aus heutiger Sicht als nicht mehr vertretbar.
Das Urteil dürfte vor allem für Sozialämter bedeutend sein: Personen mit chronischer Suchtkrankheit fielen bislang regelmässig durch die IV-Maschen. Ohne erhebliche gesundheitliche Verschlechterung ist es schwierig, einen Revisionsgrund glaubhaft zu machen. Dieses überzeugendende kantonale Urteil erleichtert eine Neuanmeldung mit Anwendung der Praxisänderung und materieller Neubeurteilung, auch ohne dass sich die tatsächlichen Verhältnisse der versicherten Person geändert haben.