BGE 143 V 168: Vermittlungsfähigkeit nach Niederkunft (Nachtarbeit)
BGE 143 V 168: Vermittlungsfähigkeit nach Niederkunft (Nachtarbeit)
BGE 143 V 168: Vermittlungsfähigkeit nach Niederkunft (Nachtarbeit)
I. Bundesgerichtspraxis zu Vermittlungsfähigkeit und Kinderbetreuung
Das Thema Vermittlungsfähigkeit (Art. 15 Abs. 1 AVIG) und Kinderbetreuung war schon verschiedentlich Gegenstand der Rechtsprechung des Bundesgerichts. Generell darf die Vermittlungsfähigkeit nicht einfach unter Verweis auf familiäre Betreuungsaufgaben verneint werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn eine Person vor Eintritt der Arbeitslosigkeit bereits den Tatbeweis erbracht hat, dass sie trotz Betreuungsaufgaben eine Beschäftigung auszuüben bereit und in der Lage war.1 Die Arbeitslosenversicherung soll zudem, ausser bei offensichtlichem Missbrauch, nicht ohne Grund das Vorhandensein eines Kinderhüteplatzes prüfen. Erscheint hingegen im Verlaufe der Arbeitslosigkeit der Wille oder die Möglichkeit, die Kinderbetreuung (extern) zu organisieren, zweifelhaft, ist die Vermittlungsfähigkeit zu prüfen.2
Bejaht wurde u.a. die Vermittlungsfähigkeit einer Mutter, obwohl sie nur abends und am Samstag arbeiten konnte (Schichtarbeit im Gastronomiebereich), da ihr Ehemann und ihre Mutter das Kind ebenfalls betreuten.3 Bestätigt wurde auch die Vermittlungsfähigkeit einer Mutter, welche nur vormittags, nachmittags oder abends zwei Stunden einer ausserhäuslichen Beschäftigung als Reinigerin nachgehen konnte. Sie betreute in der verbleibenden Zeit ihre erwachsene, behinderte Tochter zuhause. Das Bundesgericht beurteilte die Aussichten auf eine Anstellung als intakt und dachte dabei konkret an Privathaushalte oder kleinere Unternehmen, welche eine geeignete Person aufgrund einer Empfehlung anstellen würden.4
Der Umstand, dass versicherte Personen sich im Hinblick auf andere, namentlich familiäre Verpflichtungen nur während gewisser Tages- oder Wochenstunden erwerblich betätigen wollen oder können oder Eltern betreuungspflichtiger Kinder eine Arbeit in Gegenschicht zum erwerbstätigen Ehegatten suchen, begründet also allein noch keine Vermittlungsunfähigkeit. Diese Rechtsfolge tritt jedoch dann ein, wenn der versicherten Person bei der Auswahl des Arbeitsplatzes derart enge Grenzen gesetzt sind, dass das Finden einer passenden Stelle sehr ungewiss ist.5 Verneint wurde z.B. die Vermittlungsfähigkeit einer Versicherten, welche eine Stelle ausschliesslich in Gegenschicht zu ihrem Ehemann suchte. Erschwerend kam hinzu, dass der Ehemann der Versicherten unregelmässig Schicht arbeitete, seine Arbeitszeiten in der Regel erst etwa zwei Wochen im Voraus kannte und in seinem Arbeitsverhältnis eine hohe Flexibilität auch bezüglich Nacht- und Samstagsarbeit verlangt wurde. Die Versicherte wollte in der arbeitsfreien Zeit des Ehemannes ein 100%-Pensum ausüben, was das Bundesgericht als kaum realistisch beurteilte, weil die Grenzen für das Finden einer passenden Stelle zu eng gesetzt waren.6
BGE 143 V 168 bestätigt die generelle Vermittlungsfähigkeit einer versicherten Mutter zweier Kleinkinder, die explizit eine Nachtarbeit im Pflegebereich gesucht hat. Die Betreuung der Kinder war nach ihren Angaben durch ihren tagsüber vollzeitlich erwerbstätigen Ehepartner gewährleistet. Zu einem späteren Zeitpunkt ergänzte die Versicherte diese Angaben und machte geltend, die Kinderbetreuung könne tagsüber auch durch ihre Mutter, ihre Schwägerin oder ihre Cousine sichergestellt werden. Gemäss BGE 143 V 168 (Regeste) kann die „Vermittlungsfähigkeit nicht generell mit der Begründung verneint werden (…), ein potentieller Arbeitgeber sei überwiegend wahrscheinlich nicht bereit, mit einer Arbeitssuchenden einen Arbeitsvertrag für Nachtschicht abzuschliessen, nur weil sie nach Stellenantritt jederzeit Art. 35b ArG anrufen kann.“ Art. 35b ArG sieht vor, dass ein Arbeitgeber schwangeren Frauen, die zwischen 20 Uhr und 6 Uhr beschäftigt werden, nach Möglichkeit eine gleichwertige Arbeit zwischen 6 Uhr und 20 Uhr anzubieten hat. Diese Verpflichtung gilt auch für die Zeit zwischen der 8. und der 16. Woche nach der Niederkunft. Kann keine andere gleichwertige Arbeit angeboten werden, haben die betroffenen Frauen u.a. Anspruch auf 80% ihres Lohnes.
Die Zeitspanne der Arbeitslosigkeit der versicherten Mutter umfasste in casu auch die 8. bis 16. Woche nach der Niederkunft des zweiten Kindes, was für die generelle Bejahung der Vermittlungsfähigkeit keinen Unterschied machte. Die 16 Wochen nach der Niederkunft gehören definitionsgemäss als nachgeburtliche Erholungszeit aus Sicht der Arbeitslosenversicherung zur Mutterschaft.7
II. Offene Fragen zu BGE 143 V 168
Die Rechtsprechung zu Fragen der Vermittlungsfähigkeit in Fällen von Kinderbetreuung und Familienpflichten ist grundsätzlich als positiv zu bewerten und im Vergleich zu anderen Fallkonstellationen im Zusammenhang mit der Vermittlungsfähigkeit als eher „grosszügig“ einzustufen.
Etwas weltfremd und formalistisch erscheint jedoch ein Teil der Begründung des Bundesgerichts. Einerseits wird treffend ausgeführt, dass „die Personalnachfrage im Pflegebereich als notorisch hoch“ eingestuft wird, weshalb der Versicherten durchaus Chancen auf eine Anstellung zugebilligt werden. Andererseits glaubt man der versicherten Mutter nicht, wenn sie angibt, neben ihrem Ehemann stünden die genannten Familienmitglieder (ihre Mutter, ihre Schwägerin oder ihre Cousine) zur Verfügung, falls nach Bedarf auch tagsüber eine Betreuung der Kinder benötigt werde, um ihr Schlafbedürfnis (und die arbeitsgesetzlich vorgeschriebene Ruhezeit) abzudecken. Die Versicherte verfüge daher über „keine tragfähige Kinderbetreuung“, um ausreichend Ruhezeiten zu gewährleisten.
Die Haltung des Bundesgerichts ist aus der Sicht eines berufstätigen Elternteils nicht vollständig nachvollziehbar. Die Betreuung von Kindern und weiteren Familienangehörigen wird in der Schweiz weitgehend privat und individuell geregelt. Es kann durchaus vorkommen, dass Eltern auch von weiteren Familienmitgliedern darin unterstützt werden, obwohl diese vielleicht selber auch erwerbstätig sind, weit entfernt wohnen oder gesundheitlich eingeschränkt sind. Jede Familie muss die Betreuung der Kinder selbst regeln und persönlich entscheiden, welcher Weg gangbar ist und wie die Anforderungen der Arbeitgeber mit den Bedürfnissen der Familien vereinbart werden können. Dass diese Betreuungssituationen von aussen betrachtet manchmal unpassend oder sogar unvorstellbar erscheinen, sollte m.E. nicht ausschlaggebend für eine Urteilsbegründung sein.
- 1. Urteil des Bundesgerichts 8C_367/2008 vom 26. November 2008, E. 4.1.
- 2. Urteil des Bundesgerichts C 88/05 vom 20. Juli 2005, E. 4.
- 3. Urteil des Bundesgerichts C 127/04 vom 21. April 2005, E. 1.2.
- 4. Urteil des Bundesgerichts C 29/07 vom 10. März 2008, E. 4.2.
- 5. Urteil des Bundesgerichts 8C_367/2008 vom 26. November 2008, E. 2.2.
- 6. Urteil des Bundesgerichts 8C_714/2014 vom 26. März 2015, E. 4.2.
- 7. Vgl. Urteil des Bundesgerichts C 40/06 vom 24. Mai 2006, E. 3.